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Streit der Dachverbände von Sinti und Roma

Ein Staatsvertrag soll Rechte, Chancen und Pflichten der Sinti und Roma festschreiben. In Heidelberg könnte ein Kultur- und Dialogzentrum entstehen. Beide Projekte drohen wegen des Streits in der Community zu scheitern.

Noch vor wenigen Monaten schien das Ziel greifbar nah: Das Bundesinnenministerium und der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hatten seit 2018 verhandelt und einen detaillierten Entwurf für einen Staatsvertrag mit der Minderheit erarbeitet. Er soll die gleichberechtigte Teilhabe von rund 60.000 bis 100.000 Sinti und Roma stärken und zukunftsfest machen. Sprache und Kultur fördern und Rassismus entgegenwirken. Detailliert geht es in dem sechsseitigen Entwurf auch um den geplanten Neubau eines Dokumentations- und Kulturzentrums als Ort der Bildung und Forschung.

Wichtiger Partner für den künftigen Dialog zwischen Politik, Gesellschaft und Minderheit soll der in Heidelberg ansässige Zentralrat sein. Er kämpft seit 40 Jahren – auch gegen große politische und gesellschaftliche Widerstände – für Anerkennung und Chancengleichheit.

Jetzt drohen der Staatsvertrag und der 50-Millionen-Euro-Neubau des Dokuzentrums zu scheitern. Denn die über Jahrzehnte erarbeitete, herausgehobene Stellung des Zentralrats mit seinem Vorsitzenden Romani Rose wird von neuen Akteuren schroff in Frage gestellt.

Eine 2021 neu gegründete Bundesvereinigung Sinti und Roma wirft dem Zentralrat und Rose vor, nicht mehr für die Vielfalt der Sinti-und-Roma-Community zu stehen, junge Akteure auszugrenzen und eine demokratische Verständigung über Ziele und Initiativen zu verhindern. Ähnlich äußert sich die vor allem in Nordrhein-Westfalen aktive Sinti-Allianz mit ihrem Vorsitzenden Oskar Weiss. Unklar bleibt, wie viele Mitglieder der Minderheit sich von welchem Dachverband repräsentiert sehen.

Der Co-Vorsitzende der neuen Bundesvereinigung, Daniel Strauß, lobt den Zentralrat und Romani Rose zwar für deren Verdienste der Vergangenheit. Etwa beim Kampf gegen Antiziganismus, bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen, der auch nach 1945 anhaltenden Diskriminierung sowie für die Begleitung tausender Entschädigungsverfahren. “Aber statt in den Rückspiegel müssen wir nun durch die Frontscheibe schauen. Rose beansprucht den Alleinvertretungsanspruch, den kann es nicht geben”, sagt Strauß.

Der Zentralrat verweigere sich den Zukunftsthemen Bildung und soziale Teilhabe der Minderheit. “Wir wollen den Zentralrat nicht beschädigen, aber wir wollen die verschiedenen Gruppen und Initiativen alle an einen Tisch bringen – zum Wohl der gesamten Minderheit.”

Dieser Dialog ist bislang gescheitert – und der Zentralrat lehnt den von der Bundesvereinigung vorgelegten neuen Fahrplan für einen Staatsvertrag ab. Rose argumentiert, die Bundesvereinigung habe keinerlei Legitimation, für die Minderheit zu sprechen. Inzwischen wurde der baden-württembergische Landesverband, den Strauß leitet, aus dem Zentralrat ausgeschlossen.

Zum Eklat trug bei, dass die Bundesvereinigung im Juli unter Beteiligung von Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und SPD-Politiker Gert Weisskirchen ihre Forderungen in einem Eckpunktepapier öffentlich machte. Der Zentralrat soll demnach in einem neu zu schaffenden Sinti-und-Roma-Rat nur einen von sieben Sitzen erhalten. Die anderen sollen an verschiedene Initiativen und Vereine gehen.

Rose sieht in diesem Vorgehen einen Frontalangriff auf die jahrzehntelange Arbeit des Zentralrats. Die neue Vereinigung habe keinerlei Substanz, keine Verwurzelung in der Minderheit und könne daher kein Gesprächspartner sein, erst Recht nicht für die Bundesregierung.

Das sieht das Bundesinnenministerium anders. Auf Anfrage teilt ein Sprecher mit, ein Staatsvertrag sei nur realistisch, wenn “in den inhaltlichen Grundfragen innerhalb der Zivilgesellschaft Einvernehmen besteht”. Soll heißen, erst wenn sich Zentralrat und Bundesvereinigung einigen. Beide Organisationen seien für die Bundesregierung “wichtige Gesprächspartner”. Diese Gleichsetzung empört den Zentralrat.

Auch das Bildungs-, Kultur- und Dokumentationszentrum wird wohl nur gebaut, wenn es zu einer Verständigung kommt. Das baden-württembergische Staatsministerium teilt auf Anfrage mit, dass der geplante Landeszuschuss von 25 Millionen Euro nicht im Haushalt beschlossen sei. Die Mittel würden nur fließen, wenn die gesamte Minderheit das Konzept des Hauses aktiv und gleichberechtigt mitgestalten könne. Die Bundeskulturbeauftragte Claudia Roth, aus deren Etat die anderen 25 Millionen Euro kommen sollen, lässt wissen, das Dokuzentrum müsse ein einladender, offener Ort für die gesamte Community werden.

Der Zentralrat sagt, Vielfalt und Offenheit seien unter seiner Führung garantiert. Die Bundesvereinigung und die Sinti-Allianz widersprechen. Ihr Vorwurf lautet, der Zentralrat verweigere sich demokratischer Mitbestimmung. “Das Vertrauen in den Zentralrat ist geschwunden. Der Zentralrat hat den Kontakt zu den Menschen verloren”, sagt Sinti-Allianz-Chef Oskar Weiss. Ein Sprecher des Zentralrats weist auch dies zurück. Vor allem über Soziale Medien würden gezielt Lügen über den Zentralrat gestreut, um die Minderheit zu verunsichern.

Die Bundesvereinigung setzt ihren Kurs strategisch fort. Zuletzt fragte sie bei allen Bundestagsfraktionen ein Gespräch an und erläuterte in einem langen Schreiben ihre Position – inklusive der harschen Vorwürfe gegen den Zentralrat (“monokratische Strukturen”).

Insider beschreiben die Rolle Romani Roses als tragisch. Der 77-Jährige stehe wie kein Zweiter für die Erfolge der Minderheit im Kampf für gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung. Den Dialog mit den neuen Akteuren und eine Weitung von Themen und Initiativen habe er verpasst.

Auch diese Einschätzung weist Rose zurück. Der Zentralrat habe niemals Themen und Dialog verweigert.