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Sterbehilfe: Debatte zur Unzeit

Die Bischofskolumne von Christian Stäblein. Diesen Monat: Warum die Debatte zum Thema Sterbehilfe nicht hilfreich ist, wenn es täglich um Leben und Tod geht

Von Bischof Christian Stäblein

In den Krankenhäusern und besonders auf den Intensivstationen wird gerade immer wieder um Leben ­gerungen. Die zweite Welle der ­Corona-Pandemie flaut momentan ein wenig ab – nach vielen Wochen des Lockdown –, da greifen die ansteckenderen Mutationen des Virus um sich. Um die 1000 Tote täglich – das ist eine große Herausforderung für uns alle: das angemessene Gedenken an jede und jeden Einzelnen, die wir vermissen und in Gottes Hand glau-ben. So bin ich froh, dass endlich auch das gemeinsame Erinnern an die Toten der Pandemie einen öffentlichen Raum bekommt. In der EKBO haben wir das schon im Herbst ­letzten Jahres mit dem Gottesdienst am Volkstrauertag öffentlich nach vorne gestellt. Und tun es jetzt ­wieder mit einer Einladung an die Gemeinden, eigene Andachtsformen dafür zu finden.

Und zur selben Zeit, während wir noch darüber nachdenken, wie wir der Toten gedenken, tobt in den Zeitungen eine heftige Debatte um den sogenannten assistierten ­Suizid. Es ist eine wichtige Frage, die das ­Bundesverfassungsgericht uns mit seinem Urteil vor gut einem Jahr als Gesellschaft mitgegeben hat. Welches Recht der Selbstbestimmung über Sterben und Tod haben ­Menschen, insbesondere wenn sie unheilbar krank sind? Eine fundamentale Frage, zweifellos, eine, in der die zu einfachen Antworten sich stets selbst entlarven, in der ­vielmehr Haltungen gefragt sind. Leitende Personen in Diakonie und Kirche haben die Frage nun aufgegriffen. Sie treten für die Möglichkeit eines assistierten Suizids in den ­eigenen, kirchlichen Häusern ein. Das muss mit der Haltung des Lebensschutzes, der das oberste Gebot dieser Häuser ist, erst vermittelt werden. Eine wichtige Debatte – aber ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür?  

Sie kommt für mich zur Unzeit. Seit Monaten sind alle Kräfte darauf ausgerichtet, Leben zu erhalten und zu retten – gerade auch das Leben derer, die in besonderer Weise von Covid-19 betroffen sind, also alte und ältere Menschen sowie Menschen mit Vorerkrankungen. Alle Kräfte sind seit Monaten darauf ausgerichtet, einen gesellschaftlichen Konsens darüber zu schaffen, dass alle Leben geleichwertig sind. Lebensschutz gilt für alle, ohne Einschränkung.

Bei der Diskussion um den assistierten Suizid geht es den Befürwortern darum, dass ein Mensch, der unheilbar krank ist und qualvoll leidet, entscheiden darf, dass er sterben will. Und dann dabei Anspruch auf Begleitung und Unterstützung hat. Aber: Die Befürworter des assistierten Suizids kommen nicht daran vorbei zu klären, welche gesellschaft­lichen Erwartungen schleichend durch die Möglichkeit des assistierten Suizids entstehen. Welche ­Werturteile implizit über das Leben gesprochen werden. Wann fängt es an, dass unheilbar Kranke vielleicht den Eindruck haben, es würde gesellschaftlich erwartet, dass sie nicht länger am Leben hängen?

Mich erstaunt, dass in einer Zeit, in der wir gesellschaftlich dafür einstehen, das Leben jeden Einzelnen und jeder Einzelnen zu retten, diese Diskussion aufkommt. Und ich kann mir vorstellen, dass es ein falsches Licht auf Kirche und Diakonie wirft, wenn wir gerade jetzt dieses Thema so in den Vordergrund bringen. Im Moment ist dafür eine Unzeit. Suizid hat einen Sog, immer und zu allen Zeiten. Gerade müssen wir uns aber für das Leben stark machen. Wir brauchen einen Sog zum Leben. Und alle Kräfte dafür.