Der Film “Für immer hier” ist ein Publikumserfolg in Brasilien. Doch die Reaktionen auf das Werk zeigen, wie gespalten das Land beim Thema Diktatur ist.
Es ist 1971, und Brasiliens Militärdiktatur (1964-1985) ist in ihrer repressivsten Phase. Der regimekritische Politiker Rubens Paiva wird zum Verhör abgeholt – und verschwindet für immer. Er lässt fünf Kinder und seine Frau Eunice zurück, die den Rest ihres Lebens das Schicksal ihres Mannes aufzuklären versucht. Doch Rubens Leiche wird sie niemals finden. “Für immer hier” erzählt eine bewegende Geschichte, für die Brasilien am Sonntag seinen ersten Oscar überhaupt gewinnen könnte.
Der Film des brasilianischen Regisseurs Walter Salles ist in den Kategorien “Bester Film”, “Bester internationaler Film” und “Beste weibliche Hauptrolle” nominiert. Die 59-jährige Fernanda Torres hat für die Rolle der Eunice Paiva bereits den Golden Globe gewonnen, als erste Lateinamerikanerin überhaupt. Ein Oscar wäre die Krönung ihrer Karriere. Seit Wochen tingelt Torres durch Fernsehshows in den USA, um für den Film Werbung zu machen.
Über jeden ihrer Schritte wird in Brasilien berichtet. Bereits fünf Millionen Zuschauer hat der Film in die Kinos gelockt. Dass eine brasilianische Schauspielerin in einem brasilianischen Film derartige Siegeschancen hat, ist Balsam für die Seele des Landes. Denn gerne fühlt man sich am Zuckerhut als vom Rest der Welt übersehen.
So hat Brasilien zwar fünf Fußballweltmeisterschaften, aber noch keinen Oscar gewonnen. 1999 verlor ausgerechnet Fernanda Torres Mutter, Fernanda Montenegro, das Rennen um den Oscar in der Kategorie Beste weibliche Hauptrolle gegen die Amerikanerin Gwyneth Paltrow für deren Rolle in “Shakespeare in Love”. Leidenschaftlich reagierten damals brasilianische Fans, man sprach von abgekartetem Spiel. Hollywood habe etwas gegen Brasilien, hört man seitdem.
Montenegro hatte in “Central Station” eine pensionierte Grundschullehrerin gespielt, die am Zentralbahnhof von Rio als Briefeschreiberin Menschen hilft, die nicht schreiben können. Regie führte ebenfalls Walter Salles. In “Für immer hier” hat er nicht nur kleine Anspielungen auf “Central Station” eingebaut, sondern die Rolle der alten, an Alzheimer erkrankten Eunice Paiva mit der 95-jährigen Montenegro besetzt.
Sollte Fernanda Torres am Sonntag den Oscar gewinnen, wäre dies auch ein später Triumph für ihre Mutter, finden brasilianische Medien. Derweil wartete die 2018 verstorbene Eunice Paiva vergeblich auf die Korrektur des ihrer Familie zugefügten Unrechts. Von ihrem Mann blieb ihr nur ein 1996 ausgestellter Totenschein. Die Leiche wurde angeblich ins Meer geschmissen.
Doch nicht alle Brasilianer drücken am Sonntag die Daumen. Es gibt von fundierter Kritik an dem Film über Unbehagen über das Thema bis hin zu offenem Hass eine breite Palette von Reaktionen. So veröffentlichten rechte Politiker Boykottaufrufe gegen den Film. Die Jahre von 1964 bis 1985 spalten Brasilien noch immer viel tiefer, als flüchtige Blicke es preisgeben.
Oft äußern Brasilianer nur im persönlichen Gespräch Sympathie für die Diktatur. Sie habe das Land davor bewahrt, in ein revolutionäres Chaos zu versinken wie Kuba und andere lateinamerikanische Länder in jenen Jahren. 2014 hat eine Wahrheitskommission die Zahl der von der Diktatur getöteten Personen auf 434 beziffert. Angesichts der jährlich über 40.000 Gewaltopfer in Brasilien seien das doch sehr wenige, hieß es.
Doch es gibt auch die lauten Stimmen. Angefangen bei Ex-Präsident Jair Messias Bolsonaro, der stets die Diktatur verteidigt. Der ehemalige Militär hatte als Sohn einer armen Familie in seiner Kindheit Kontakt zu der wohlhabenden Familie von Rubens Paivas Vater, der ebenfalls Politiker war. Für Leute wie Bolsonaro sind die Paivas Vertreter einer nur auf die eigenen Interessen bedachten Politkaste, und als Linke zudem Landesverräter.
Nun fällt der Rummel um “Für immer hier” zeitlich ausgerechnet mit der Anklage gegen Bolsonaro und hohe Generäle zusammen, die 2022 einen Putsch gegen Luiz Inacio Lula da Silva geplant haben sollen, den Sieger der Wahl von 2022. Und das Oberste Gericht berät derzeit über die Aufhebung des Amnestiegesetzes von 1979, das den Militärs bis heute Straffreiheit garantiert. Fälle wie der von Rubens Paiva könnten bestraft werden. Etwa 200 Personen gelten immer noch als verschwunden.