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Spazierend die Welt verändern

Herumschweifen kann neue Welten erschließen, sagt der Spaziergangswissenschaftler Martin Schmitz. Spazierengehen ist wieder angesagt. Kirchen offerieren sogar „faire Spaziergänge“

epd

Es ist eine Wissenschaft für sich: das Spazierengehen. Früher war der Sonntagsspaziergang für Familien Pflichtprogramm nach dem Sonntagsbraten. Generationen pflegten dieses Ritual – bis der klassische Spaziergang aus der Mode kam. Flanieren, Schlendern, ziellos Umherstreifen passte nicht mehr zum durchgetakteten Alltag einer Generation, die ihre Schritte zählt und den Kalorienverbrauch errechnet. Doch der Spaziergang kehrt zurück: als Geschäftsmodell, Wissenschaft, Philosophie und als Weg, die Welt zu verändern.
„Spazieren schafft Schönheit“ ist das Credo von Professor Martin Schmitz, Spaziergangswissenschaftler an der Kunsthochschule Kassel. Auch ist er professionell unterwegs, wenn er mit seinen Studenten spazieren geht. Gegründet wurde der Lehrstuhl für Spaziergangswissenschaft in den 1980er Jahren vom Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt.
Dieser hat die Promenadologie als Wissenschaft ins Leben gerufen, die vor allem für Designer, Städtebauer und Architekten eine wichtige Rolle spielt. Dabei werde der Zusammenhang zwischen Bewegung, Wahrnehmung und Gestaltung erforscht, erklärt der Spaziergangswissenschaftler. „Es geht darum, sich völlig unvorbereitet den eigenen Stadtraum oder die umgebende Landschaft zu erschließen.“ Wissenschaftlich betrachtet sei das Spazierengehen das ziellose, vorurteilsfreie und absichtslose Herumschweifen, ohne genaue Vorstellung vom Ziel zu haben.
Spazierengehen als Methode gibt es seit Langem schon in der Philosophie: „Ich kann nur beim Gehen nachdenken. Bleibe ich stehen, tun dies auch meine Gedanken“, schrieb einst der Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), der damit auf den Spuren von Aristoteles und Co. wandelte: Die sogenannten Peripatetiker trafen sich zu philosophischen Spaziergängen in einer Wandelhalle, griechisch Peripatos. Sie glaubten, dass das Denken erst so richtig beim Spazieren in Gang komme. Auch Promenadologe Schmitz kann das bestätigen: „Gehen hat einen unglaublichen Beschleunigungseffekt auf das Denken und das Mitteilen der Gedanken.“
Schmitz rät Städteplanern und Architekten, immer wieder den Schreibtisch zu verlassen und vor Beginn der Planung spazieren zu gehen. „Wenn wir spazieren gehen, erschließen wir uns unsere Umwelt, und das wiederum hat Einfluss darauf, wie wir die Welt gestalten.“ Dem liege ein kinematographischer Effekt zugrunde: „Wenn wir zu Hause sind, erzählen wir in Sequenzen, was wir gesehen haben“, erklärt Schmitz. Was wir wahrnehmen sei damit nicht nur mit dem zurückgelegten Weg verknüpft, sondern werde erst durch den Spaziergang ermöglicht.
Dass Spazierengehen die Welt verändern kann, glaubt auch Silke Scheidel von der Evangelischen Arbeitsstelle Bildung und Gesellschaft in Kaiserslautern. Zusammen mit der Frauenarbeit im Bistum Speyer organisiert sie „Faire Spaziergänge“ in Kaiserslautern und Speyer. „Wir gehen miteinander durch die Stadt und schauen uns vor allem positive Beispiele an“, sagt Scheidel.
Im Blick hat sie dabei besonders die Arbeitsbedingungen und die Ökobilanz der Produkte, die in den Schaufenstern liegen. „Wir wollen Schritt für Schritt zu einer faireren, nachhaltigeren Gesellschaft kommen“, sagt Scheidel. Die Flaneure werden auf Läden aufmerksam gemacht, die sich für faire Arbeitsbedingungen und Nachhaltigkeit engagieren.
Für einen gelungenen Spaziergang empfiehlt der Fachmann Schmitz übrigens: „Einfach an Orte gehen, an denen man schon lange nicht mehr oder noch nie war.“ Auch privat flaniert der Wissenschaftler gerne – mit Vorliebe am Sonntag.