Eine gelungene Arte-Dokumentation rekapituliert die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Alexander Solschenizyns Hauptwerk “Der Archipel Gulag” und liefert eine Fülle von Denkanstößen.
Viele Jahre verbrachte er unschuldig in einem sowjetischen Straflager. Seine autobiografischen Schilderungen dieser qualvollen Zeit erregten große Aufmerksamkeit. Basierend auf Schilderungen zahlreicher Zeitzeugen – die Gleiches durchgemacht hatten und sich daraufhin bei ihm meldeten – formulierte Alexander Solschenizyn eine monumentale Abrechnung mit dem Kommunismus. In ihrer Doku schildern Jerome Lambert und Philippe Picard das heute kaum noch vorstellbare politische Erdbeben, welches das Erscheinen von “Der Archipel Gulag” Anfang der 1970er Jahre auslöste.
Die mutmaßliche Ermordung des Regimekritikers Alexei Nawalny brachte sie wieder in Erinnerung: Jene unzähligen russischen Straflager, in denen Regimegegner verschwinden und grausam zu Tode kommen. Zwischen zwei und fünf Millionen Menschen starben in solchen Lagern; weitere zwanzig Millionen Delinquenten gingen in ihnen durch die Hölle.
Einer davon war der junge Alexander Solschenizyn. Dabei war der damals 25-Jährige eigentlich ein Kriegsheld der Roten Armee, ausgezeichnet wegen Tapferkeit. Dummerweise hatte er in einem Brief Stalin beleidigt. Noch auf dem Schlachtfeld wurde er 1944 festgenommen und zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt.
Lambert und Picard rekonstruieren die komplexe Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Solschenizyns Werk, das zum Zusammenbruch der Sowjetunion beitrug und so indirekt auch der deutschen Wiedervereinigung den Weg ebnete. Mehr Einfluss kann ein Buch nicht haben. Arte strahlt die Doku am 20. März ab 21.55 Uhr aus, ab 13. März ist sie bereits in der Mediathek zu sehen.
An so eine Wirkung hatte Solschenizyn anfangs gar nicht gedacht. Anhand der Schilderungen eines charakteristischen Tages in einem sogenannten Gulag wollte er lediglich vor Augen führen, welch erbarmungsloses Unrecht zahllosen Landsleuten in diesem totalitären System systematisch zugefügt wurde.
Spätestens mit dem Literatur-Nobelpreis, den er bereits 1970, also noch vor Erscheinen seines Hauptwerkes erhalten hatte, galt der weltbekannte Autor als Feind der Sowjetunion. Die Dokumentation zeichnet nach, wie Solschenizyn sein epochales Werk unter extremen Vorsichtsmaßnahmen fragmentarisch niederschrieb – so dass im Fall seiner Verhaftung nie das gesamte Manuskript in die Hände des KGB fallen würde.
Allein schon diese Rekonstruktion, illustriert mit Archivfilmen aus sowjetischen Gulags, macht diese Doku sehenswert. Als das umfangreiche dreibändige Werk ab 1973 in Frankreich erschien, löste es darüber hinaus in der westlichen Welt eine der größten Kontroversen des zwanzigsten Jahrhunderts aus.
Etliche Zeitzeugen schildern vor der Kamera ihre Erinnerungen. Die europäische Linke – die bis dahin kritiklos das Modell der Sowjetunion und die Diktatur des Proletariats unter Führung der Kommunistischen Partei unterstützte – verlor ihren weltanschaulichen Referenzpunkt.
Der Film verknüpft die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte eines bedeutenden literarischen Werks mit einem politisch-historischen Rückblick, der nahezu das gesamte zwanzigste Jahrhundert umfasst. Das Buch – das auch einer bis dahin nicht möglichen Geschichtsschreibung gleichkam – legt Dokumente vor, die belegen, dass bereits Lenin Andersdenkende in Gulags schickte.
Natürlich fehlen auch nicht jene um die Welt gegangenen Bilder, die zeigen, wie Solschenizyn nach seiner Ausweisung aus der UdSSR für eine Weile von seinem Freund und Kollegen Heinrich Böll aufgenommen wurde. Die insgesamt zwiespältige Aufnahme des Dissidenten und seines Werks in der damaligen Bundesrepublik hätte vielleicht etwas präziser ausfallen können.