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Sommerreihe: Von Hamburg in die schottische Wildnis

Für unsere Sommerreihe “Draußen mit Sinn” sind wir in diesem Jahr selbst unterwegs. Zu Fuß, mit dem Rad oder auf dem Wasser sammeln wir Erfahrungen und suchen nach dem Sinn zwischen Himmel und Erde.

Die raue Landschaft Schottlands hat ihren eigenen Charme
Die raue Landschaft Schottlands hat ihren eigenen CharmeHagen Grützmacher

Der Pub „The Old Forge“ im Örtchen Inverie in Schottland trägt den inoffiziellen Titel „entlegenster Pub auf dem britischen Festland“. Er ist nur auf zwei Wegen zu erreichen: sechs Stunden im Bummelzug ab Glasgow und anschließend mit einer winzigen Fähre oder zu Fuß, querfeldein, gut 25 Kilometer durch die Highlands. Als ich darüber las, war mir sofort klar: Da muss ich hin.

Auf mich als Stadtkind der Millionenmetropole Hamburg haben die schottischen Highlands immer schon eine besondere Faszination ausgeübt. Die Landschaft ist schroff, karg, geprägt von hohem Gras, Heidekraut und Felsen. Stellenweise nicht unähnlich den Küsten von Nord- und Ostsee, wenn man von den Bergen einmal absieht.

Bei einer Wanderung durch die Highlands kann es geschehen, dass man den ganzen Tag keine Menschenseele trifft. Man ist allein mit sich, dem Weg, der Natur und dem Wasser. Überall ist Wasser. In den Weiten der majestätischen Fjorde, in Schottland Loch genannt (auszusprechen übrigens mit deutschem „ch“ am Ende), in den Flüssen und Bächen, die von den Hügeln herabgluckern, und im steten Regen aus den Wolken, die so tief hängen, dass man meint, sie berühren zu können.

Was kommt hinter dem nächsten Hügel?

Inverie liegt an der Westküste Schottlands, auf der Halbinsel Knoydart. Das Gebiet gilt als eine der letzten echten Wildnisse Großbritanniens. In Inverie leben etwas mehr als 100 Menschen, es gibt einen kleinen Dorfladen, eine Grundschule und den Pub. „The Old Forge“, die alte Schmiede, ist ein langes, ebenerdiges Haus mit weißgetünchten Wänden. Seit ein paar Jahren gehört das Gasthaus der Dorfgemeinschaft. Ein Zufluchtsort vor Wind und Wetter für die Einheimischen und die vielleicht drei Dutzend Touristen, die es hierher geschafft haben.

Ich bin einer von ihnen. Und niemand, der nicht vorher zwei Tage lang einen schweren Rucksack über Flüsse, Hügel und Berge getragen hat, mit Wasser in den Schuhen und der ständigen Frage, ob hinter der nächsten Kuppe noch ein weiterer Hügel wartet, kann nachvollziehen, welches Gefühl es ist, wenn man nach diesem Marsch durch die Tür des Pubs tritt, mit der Aussicht auf ein kühles Getränk und etwas Warmes zu essen.

Ein Mann wandert durch einen kleinen Fluss in den Bergen

Ich habe diese Wanderung mittlerweile zweimal gemacht, im Abstand von zehn Jahren. Der Weg ist körperlich anspruchsvoll. Zwar ist die Strecke vom Ausgangspunkt Kinloch Hourn bis nach Inverie nicht sehr lang, aber es müssen etliche Hügel und ein etwa 500 Meter hoch gelegener Pass überwunden werden, um ans Ziel zu kommen.

Die örtlichen Internetseiten und Touristenführer empfehlen die Strecke nur für erfahrene Wanderer. Das war ich nie. Ich gehe viel zu Fuß, treibe Sport, aber gezielt wandern? Den Alsterlauf entlang im Hamburger Umland? Eher nicht.
Warum also habe ich mir diese Herausforderung zweimal vorgenommen? Beim ersten Mal trieb mich eine gewisse Neugier, die Lust auf das Abenteuer und meine Liebe zu Schottland. Aber beim zweiten Mal?

Der Abenteuersinn wird zigfach belohnt

Für mich ist die Wanderung über die Halbinsel Knoydart zum „The Old Forge“ vor allem eine Auseinandersetzung mit mir selbst. Geistig und körperlich. Da draußen, zwischen blühenden Disteln und moosbewachsenen Felsen, tritt der Alltag, den wir als Zivilisationsmenschen kennen, völlig in den Hintergrund. Handyempfang? Gibt es nicht. Ein Ausflugslokal auf halber Strecke? Fehlanzeige.

Bei der Vorbereitung auf die erste Wanderung ging mir durch den Kopf: Was, wenn du auf der Strecke umknickst und nicht weiterlaufen kannst? In Hamburg würde ich zum Handy greifen und den Rettungsdienst anrufen. Aber in den schottischen Highlands? Vielleicht käme ein anderer Wanderer vorbei – irgendwann. Mit Glück. Für mich war ein wichtiger Teil des Weges, mich von solchen gewohnten Sicherungsnetzen frei zu machen. Sich gut vorbereiten, Schuhwerk, Regencape und dann einfach loslaufen.

Ein Baum am Ufer eines Sees im wolkenverhangenen Schottland

Für solchen Abenteuersinn wird der Wandernde zigfach belohnt. Wenn ich einen der Hügel erklommen hatte, kam ich immer wieder ins Staunen. Zu meiner Rechten das Loch, lang gezogen mit dem dunklen, ruhigen Wasser, in dem sich die Berge im Norden spiegeln. Zu meiner Linken die steilen Hügel, grün bewachsen, dazwischen wie alte Wächter graue Felsen. Ich erinnere mich, wie ich dem Pfad folgend plötzlich ein Rauschen hörte und dachte: „Eine Schnellstraße? Hier?“ Nein, ein größerer Wasserfall, der silbern glänzend in die Tiefe stürzte.

Die Wanderung in den Highlands verändert die eigene Perspektive. Auf die Umgebung und den Alltag, aber vor allem auf einen selbst. Bei der zweiten Tour war ich Ende vierzig. Zehn Jahre waren seit der ersten Reise vergangen. Ich treibe Sport, bin relativ fit, aber würde ich den Weg querfeldein, den Berg hinauf noch einmal schaffen?

Die Antwort ist: ja, auch wenn es hart war. Im schottischen Sommer warteten bei der Überquerung des Gebirgspasses peitschender Regen und Böen, die manchmal drohten, mich einfach umzureißen. Im Pub angekommen, hatte ich keinen Fetzen trockene Kleidung mehr am Leib. Und trotzdem plane ich schon die nächste Tour. Vielleicht in zehn Jahren, gemeinsam mit meinen Kindern. Dann bin ich Ende fünfzig. Ob ich die Hügel dann noch raufkomme? Ich werde wohl einfach loslaufen und es herausfinden.

Die Route finden Sie hier.