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So spricht Gott

Die Zehn Gebote sind vielleicht der bekannteste Text der Bibel. Weltweit gelten sie als ethische Richtschnur. Wie das möglich ist, macht ihre Entstehungsgeschichte deutlich

Es ist der Sommer des Jahres 587 vor Christus, und die Truppen des babylonischen Königs Nebukadnezar haben ganze Arbeit geleis­tet: Es ist nicht mehr viel übrig vom stolzen Königreich Juda und seiner Hauptstadt Jerusalem. Die Häuser sind zerstört, auch der Königspalast und – am schlimmsten – der Tempel des Nationalgottes JHWH liegen in Schutt und Asche. Die Felder sind verwüstet, die Priester und andere Eliten des Landes deportiert. Mit ihnen darbt sogar König Zedekia höchstpersönlich in Gefangenschaft im mächtigen Babylon. Davon berichtet das zweite Buch der Könige (Kapitel 24-25). Archäologische Funde bestätigen die Katastrophe.
Wie konnte Gott das zulassen? Diese Frage beschäftigte die Menschen damals. Aber auch: Was machte nun Israels Identität als von Gott gestiftete Gemeinschaft aus – jetzt, wo Stadt, Staat, Tempel zerstört waren und ein Teil der Bevölkerung zerstreut? Der Dekalog ist ein Zeugnis des theologischen Nachdenkens über diese Frage. Und das Buch Deuteronomium, in dem die wahrscheinlich älteste Fassung der Zehn Gebote steht, will der Verfassungsentwurf eines Neuen Israels nach dem Exil sein.
Dabei war den Autoren klar, dass es jetzt und in Zukunft immer Israeliten geben würde, die im gesamten Orient von Ägypten bis Mesopotamien in der Diaspora und nicht im Verheißenen Land leben würden. Ein Verfassungsentwurf für ein Neues Israel musste das berücksichtigen. Er musste auch die Diaspora einschließen.
Der Dekalog gibt die Regeln des Zusammenlebens an – für alle, die sich zu Israel zählen, wo immer sie leben. Was sich in den Kapiteln 12 bis 25 anschließt, ist die Ausformulierung des programmatischen Zehnworts: ein Verfassungsentwurf für das Leben im Verheißenen Land nach der Katastrophe.
Zum Fremdgötterverbot, das für jeden, der sich zu Israel zählt, überall auf der Welt gilt, tritt das Gebot nur eines Heiligtums (Kapitel 12), zum Elterngebot, das weltweit in den Familien gelten soll, das Ämtergesetz von Richter, König und Prophet (16-18). Zu den ethischen Geboten (Tötungs-, Ehebruchs-, Diebstahls-, Falschzeugnis- und Begehrensverbot) treten als ihre Entfaltung Rechtssätze des Blut- und Eherechts (19-25).

Die Gebote sind universal formuliert

Der Dekalog im 5. Kapitel des Deuteronomiums ist so universal formuliert, dass die Israeliten, die in der damaligen Völkerwelt unter verschiedenen Rechtsordnungen der gastgebenden Völker lebten, trotzdem nicht in Konflikt mit den jeweiligen Rechtsordnungen gerieten. Die heutige universale Bedeutung des Dekalogs in der Moderne hat also durchaus Anhalt an  dessen Ursprung.
Die Autoren des Dekalogs haben sich der Bausteine bedient, die die israelitische Rechtstradition ihnen vorgab. Damit ist der Dekalog auch ein Spiegel der israelitischen Rechtsgeschichte, die in der Katastrophensituation des 6. Jahrhunderts zusammengefasst wurde. Die Verwendung verschiedener vorgegebener Bausteine zeigt nicht nur der Wechsel von der Gottesrede in der ersten Person (Deuteronomium 5, 6-10) zur Rede über Gott in der dritten Person in den folgenden Geboten. Auf verschiedene Vorlagen deutet auch, dass in 5, 17-20 die Zusammenstellung der Verbote von Mord, Ehebruch, Diebstahl sowie des Falschzeugnisses vor Gericht schon in Rechtssammlungen wie dem Bundesbuch in 2. Mose 21-23 und in der Prophetie, zum Beispiel in Hosea 4, 2, belegt sind.
Elterngebot, Tötungs-, Ehebruchs- und Diebstahlverbot sind Teil einer Zusammenstellung von todeswürdigen Verbrechen in Exodus (2. Mose 21, 12-17) und Levitikus (3. Mose 20, 10). Im Dekalog werden sie von jeder Strafandrohung gelöst. In 2. Mose 21, 12-17 gehört das Verbot, die Eltern durch Wort und Tat anzugreifen, in die Reihe der Todesrechtssätze. Im Dekalog wird dieses Verbot positiv als Gebot, die Eltern einschließlich ihrer Versorgung im Alter zu unterstützen, formuliert.

Aus Abwehrrechten werden Freiheitsrechte

Die Gesetzgebung des Eherechts, wie sie das Deuteronomium in 5. Mose 22 bewahrt hat, ist an der Erfüllung vertraglicher Verpflichtungen aus dem Ehevertrag insbesondere der Frau und ihrer Familie gegenüber dem Ehemann und seiner Familie orientiert. Im Dekalog wird daraus das Gebot wechselseitiger Treue.
Aus dem Blutrecht, das in 2. Mose 21, 12-14 an der Unterscheidung von Mord und Totschlag beziehungsweise Körperverletzung mit Todesfolge orientiert ist, wird im Dekalog ein generelles Verbot eines gemeinschaftszerstörenden Blutvergießens. Das Diebstahlsverbot, das ursprünglich den Menschendiebstahl untersagte (wie aus Exodus 21, 16 hervorgeht), sichert im Dekalog zusammen mit dem Begehrensverbot die Freiheitsrechte der Israeliten, zu denen auch ihre wirtschaftliche Lebenssicherung gehört.
Kurz: Aus den Abwehrrechten der Gesetze sind im Dekalog Freiheitsrechte geworden. Wie im Sabbatgebot schließen sie den Schutz der Schwachen ein. Und in diesem Sinne werden sie im Deuteronomium für das Leben im Verheißenen Land entfaltet.
Mit dem Schutz von Leben, Ehe und Eigentum unterscheidet sich der Dekalog nicht prinzipiell von Recht und Ethik der Kulturen des Orients von Ägypten bis Mesopotamien. Weder sind die Zehn Gebote aber lediglich Zeugnis einer altorientalischen Rechtskultur, noch sind sie der Beleg für die ethische Einmaligkeit der Hebräischen Bibel. Beides greift zu kurz.
Die Dekaloggebote stammen aus einem dem Keilschriftrecht verwandten Rechtsmilieu in der Hebräischen Bibel. Doch als Gebote ohne Strafandrohung formuliert und in einer dekalogischen Reihe zusammengestellt, werden sie zur Gründungsurkunde des Gottesbundes mit Israel. Unter dem Dach der theologischen Gebote von der Alleinverehrung Gottes und des Ruhetagsgebots erhalten sie ein unverwechselbares Profil, das keine Entsprechung im Alten Orient hat. Der Dekalog hat also einige Züge, die ihn vom Recht des Alten Orients nicht nur graduell, sondern prinzipiell abheben.

Direkt von Gott offenbart

Nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels suchen die Autoren des Dekalogs einen Ort der Gottesgegenwart. Sie finden ihn an einem fiktiven Berg Horeb in der Wüste. An die Stelle des zerstörten Tempels tritt ein Ort, an dem sich Gott mit den Zehn Geboten offenbart und einen Bund mit Israel schließt. Der Dekalog ist unmittelbar von Gott offenbart – ohne Vermittlung durch Mose. Die biblischen Autoren setzen das Zehnwort damit vom anschließenden Deuteronomium ab, das von Mose als Mittler verkündet wird. So erhalten die Zehn Gebote die höchstmögliche Autorität. Und das Gesetzeswerk des Deuteronomiums erscheint so als Entfaltung des Dekalogs für das Leben im Verheißenen Land.
Als im 5. vorchristlichen Jahrhundert das Deuteronomium als fünftes der Mosebücher in die Tora integriert wurde, rückte der eigentlich ältere Dekalog an den Rand. Für einen Text, dem höchste Autorität zugesprochen wurde, war das nicht passend. So wurde der Dekalog in das Zentrum der Sinaierzählung im 2. Buch Mose als Offenbarung Gottes am Sinai eingestellt und in zehn Gebote gegliedert. Damit war der Dekalog im Sinne des Wortes entstanden.

Eckart Otto war Professor für Altes Testament in Hamburg, Osnabrück, Mainz, München und Pretoria und ist Experte für alt­orientalische und biblische Rechtsgeschichte.