Dass die Gemeinde singt, ist eine der großen Errungenschaften der Reformation. Zuvor war das in der Messe Priestern und Chören vorbehalten. Martin Luther veröffentlichte 1529 sein „Gemeindegesangbuch“. Der Titel war Programm: Die Gemeinde sollte singen.
Luther dichtete Psalmen um, übertrug Choräle ins Deutsche, schrieb biblische Kinderlieder. Gesang und Kirchenmusik wurden Kennzeichen protestantischen Gemeindelebens bis heute.
Doch mit der Säkularisierung gerät das gemeinsame Singen in eine Krise. Es gibt immer weniger Kirchenlieder, die generationsübergreifend bekannt sind. Bestatter haben mittlerweile ein großes Repertoire von Songs auf CD, die meist mehr gewünscht werden als die klassischen evangelischen Beerdigungslieder.
Man könnte meinen, gemeinsames Singen sei einfach nicht mehr zeitgemäß. Dagegen spricht jedoch, dass der Gesang an anderen Orten noch gut funktioniert. In den Fußball-Arenen zeigen sich allwöchentlich Zehntausende singfreudig und stimmgewaltig, ob jung oder alt.
Und da sind nicht nur Schmäh-Lieder über den Gegner zu hören. Es gibt mehrstrophige Vereinslieder und kreative Umdichtungen alter Gassenhauer, Gospel- oder Pop-Songs.
Ähnlich beliebt: das sogenannte Rudelsingen. Menschen jeden Alters treffen sich, um bekannte Lieder lauthals zu schmettern. Ohne großen Anspruch, aber inbrünstig. In vielen deutschen Stadien gipfelt das einmal im Jahr im Weihnachtsliedersingen, mit bis zu 70000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Städten wie Berlin, Köln, Gelsenkirchen oder Dortmund. Ein großes Erlebnis, der Gesang, die Gemeinschaft.
Untersuchungen bestätigen, dass rund 30 Prozent der Deutschen gern singen, aber nur fünf Prozent in festen Chören. Die Kirche sollte dieses Bedürfnis ernst nehmen, auch über die sonntägliche Kerngemeinde hinaus.
Schon für den Gottesdienst müsste gelten, dass Lieder einfach zu singen sind und regelmäßig wiederholt werden. Dann kann sich ein „Repertoire“ entwickeln. Vielleicht muss das Wochenlied mal ausfallen. Ebenso der Anspruch, ein Choral müsse textlich perfekt zur Predigt passen. Was nutzt das, wenn ihn keiner mitsingen kann?
Eine „Reformation des Gemeindegesangs“ sei nötig, so Martin Bartelworth, Geschäftsführer der Evangelischen Pop-Akademie in Witten. Die Kirche müsse sich musikalisch mehr ins Gemeinwesen einbringen und etwa in Grundschulen und Kindertagesstätten aktiv werden: „Dann kennen die Kinder 20 alte und neue Kirchenlieder.“ Noten seien dabei gar nicht so wichtig, sondern die Gemeinschaft, das Verbindende, die Freude am Singen.
Die Evangelische Kirche von Westfalen hat mit einem Liederbuch einen Versuch gestartet, den Gemeindesang zu beleben. „Ich wünsch dir einen Engel“ heißt das Heft mit neuen Taufliedern zu bekannten Melodien wie „Alle Jahre wieder“ oder „Oh when the Saints“. Zum Teil nah an den Stadion-Hits, aber vielleicht ein Modell für die Zukunft.