Als Laura Schwengber zwölf Jahre alt war, verlor ihr bester Freund Edi durch eine Erbkrankheit Augenlicht und Gehör. Doch Laura und Edi gaben nicht auf. „Wir waren sehr pragmatisch“, erzählt die heute 28-jährige Gebärdendolmetscherin bei einem Musikfestival in Nürnberg. Es war klar: Das Mädchen und der nun fast blinde und taube Junge mussten eine Zeichensprache erfinden, die über Berührungen funktionierte.
„Unsere erste Gebärde waren die Pikachu-Ohren“, erinnert sich Schwengber lachend. Denn am liebsten spielten die beiden das Videospiel Pokémon. Schließlich entwickelten sie auch Buchstaben: Mit dem Finger auf den Kopf tippen war das ‚i‘, für ein ‚m‘ berührte Laura mit dem Finger Edis Mund, für ein ‚n‘ seine Nase.
Während der Schulzeit träumte die Spreewälderin von einer Musikkarriere. Doch kurz vor dem Abitur beendete die Gesangslehrerin ihre Illusionen. Stattdessen studierte sie in Berlin „Deaf Studies“ („deaf“ ist englisch für „taub“), lernte verschiedene Gebärdensprachen, legte 2012 die staatliche Prüfung zur Gebärdendolmetscherin ab. Seitdem hilft sie gehörlosen Menschen etwa bei Arztbesuchen, Abiturprüfungen, Kindergeburtstagen oder Führungen durch den Bundestag. Doch Schwengber vergaß nie ihre zweite große Leidenschaft: die Musik.
Eines Tages bekam sie eine Anfrage von einer Volontärin des NDR: Die junge Journalistin wollte mit ihr ein Videoprojekt organisieren, Laura sollte Lieder in Gebärden dolmetschen. Sie war erst misstrauisch, schrieb dann aber doch zurück. Nach zwei Wochen hatte das Video 100 000 Klicks auf Youtube.
Heute arbeitet Laura Schwengber in ganz Deutschland als Gebärdendolmetscherin für Konzerte. Jahrelang ging sie mit der Ostrockband „Keimzeit“ auf Tournee. Seit 2016 reist sie jedes Jahr zum Eurovision Song Contest (ESC) und dolmetscht alle Songs mittlerweile live. Oft wird Schwengber auch für klassische Konzerte oder Musikfestivals engagiert.
In Nürnberg stand sie unter anderem mit dem Münchner Duo Blind & Lame auf der Bühne: Die blinde Mutter Gika spielt Gitarre, ihre im Rollstuhl sitzende Tochter Lucy singt. Laura Schwengber imitiert mit den Lippen den Gesang, hüpft im Rhythmus, tanzt, springt über die Bühne, gestikuliert ähnlich wie eine Rapperin.
„Ich glaube, dass auch wir Hörenden Musik sehr unterschiedlich erleben“, sagt die 28-Jährige auf die Frage, wie man Musik für Menschen ohne Gehör erlebbar macht. „Es geht nicht nur um die Töne, sondern um das Gesamtpaket: den Rhythmus, das Miteinander. Jemand, der noch nie gehört hat, wird auch danach nicht wissen, wie eine Klarinette klingt. Aber ich glaube, er wird wissen, wie sie wirkt.“
Nach Konzerten bedankten sich oft gehörlose Besucher bei ihr, sagt sie und erzählt von 70-Jährigen, die dank ihr zum ersten Mal ein Konzert miterleben konnten. Inzwischen hat sie es sich abgewöhnt, die Texte der Lieder, die sie dolmetschen soll, komplett auswendig zu lernen. „Ich weiß, worum es in den Liedern geht und wie jede Strophe anfängt, aber während des Konzerts reagiere ich lieber spontan“, sagt Schwengber. „Zum Beispiel falls der Sänger den Text abändert oder vergisst.“
Natürlich passieren zwischendurch auch mal Fehler. Bei dem Song „So Perfekt“ von Casper verstand sie mal die Textzeile „Du kratzt, du beißt, Fastenzeit vorbei“ falsch. „Statt ‚Fastenzeit vorbei‘ habe ich ‚Du fasst, du zeigst vorbei‘ übersetzt“, erzählt Schwengber und lacht. „Was ja gar keinen Sinn ergibt.“
2017 hat die 28-Jährige insgesamt 50 Konzerte gedolmetscht, in diesem Jahr waren es im ersten Halbjahr schon mehr. Erst ein Mal hat sie eine Anfrage abgelehnt. Sie kam von einem Rapper. „Ich habe den Songtext gesehen und dachte mir: So viele Schimpfwörter kenne ich in Gebärdensprache gar nicht.“
Artikel teilen
Sie übersetzt Musik
Wenn auf der Bühne Musik erklingt, hüpft Laura Schwengber im Takt und gestikuliert: Gehörlose sollen das Konzert erleben. Ein Schicksalsschlag brachte sie zur Gebärdensprache
©Giulia Iannicelli/epd