Das Phänomen “Stealthing” treibt auch die deutsche Justiz um. Ein Fall in Mannheim sorgt für Aufsehen: Er macht deutlich, warum Gerichte Beschuldigte oft freisprechen und was das für Betroffene bedeutet.
Ein 32-Jähriger und eine zehn Jahre jüngere Frau lernen sich im Juni 2023 in einer Bar im Mannheimer Jungbusch kennen. Der Morgen dämmert, als sie ein Taxi zur Wohnung des Mannes nehmen. Dass sie Sex miteinander haben wollen, darüber sind sie sich einig. Aber nicht ohne Kondom, betont die Frau. Der Mann streift eines über. Es kommt zum Sex, aber er nicht zum Höhepunkt. Als sie später erneut miteinander schlafen wollen, sagt die Frau wieder, er solle ein Kondom nehmen. Der Mann aber entgegnet: “Wir haben das schon mal gemacht.” Er habe das Kondom während des Geschlechtsakts abgestreift.
Die Frau erstattet Anzeige – und nun hatte das Amtsgericht in Mannheim darüber zu entscheiden, ob einvernehmlicher Sex in einer Vergewaltigung endete. Das heimliche Abstreifen des Kondoms ist nämlich strafbar und gilt als sexueller Übergriff; im Einzelfall kann es sogar als Vergewaltigung eingestuft werden. Fachleute sprechen von “Stealthing”, das bedeutet im Englischen Heimlichkeit oder List.
Was in der Verhandlung vor dem Schöffengericht bis zum Schluss unklar blieb: Hatte der 32-Jährige tatsächlich das Kondom kurz vor oder während des ersten Aktes entfernt? Oder hatte er das nur behauptet, um vielleicht die Frau genau dazu zu bewegen: ungeschützten Geschlechtsverkehr mit ihm zu haben? Die 22-Jährige selbst wusste es nicht, der Beschuldigte schwieg.
Dem Gericht war das für eine Verurteilung zu wenig. “Es blieben Zweifel an der Version der Anklage”, erklärte der Vorsitzende Richter, Sebastian Rechkemper, in seiner Urteilsbegründung. Die junge Frau habe nicht wissentlich gelogen, sie habe schlicht nicht sagen können, ob der Mann das Kondom abgestreift habe. “Die Angaben der Nebenklägerin stützen sich ausschließlich auf das, was der Angeklagte selbst geschildert hat.” Die entscheidende Frage also, ob hier gegen den erkennbaren Willen einer Person sexuelle Handlungen stattgefunden hatten, blieb damit unbeantwortet. So gilt: Im Zweifel für den Angeklagten – der Mannheimer wurde freigesprochen.
Sabrina Hausen, die die Nebenklägerin in dem Verfahren vertreten hat, fürchtet, dass dies das Ergebnis in vielen ähnlichen Fällen sein könnte. “Wie der Name schon sagt: Stealthing findet im Geheimen statt, die eine Person will ja gerade nicht, dass die andere das Entfernen oder das Nicht-Aufziehen des Kondoms mitbekommt”, erklärt die Strafrechtsexpertin. Ein großes Problem, wenn vor Gericht Aussage gegen Aussage steht.
In Sexualstrafverfahren ist das eine häufige Konstellation, objektive Beweise fehlen, wenn es um intime Begegnungen zwischen Menschen geht. Das betraf im Besonderen den Mannheimer Fall, denn wäre ein Ejakulat in der Frau nachweisbar gewesen wäre, wäre die Sache klar gewesen. Da es aber offensichtlich keinen Höhepunkt gab, gab es auch kein Ejakulat.
Das deutschlandweit vermutlich erste Urteil in Sachen Stealthing fiel im Dezember 2018, als das Amtsgericht Berlin-Tiergarten einen damals 37-jährigen Mann wegen heimlichen Entfernens eines Kondoms zu einer mehrmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilte.
Zwei Jahre später befasste sich der Bundesgerichtshof (BGH) mit dem Thema und stellte in einer Leitsatzentscheidung im Dezember 2020 fest: “Stimmt eine Person Geschlechtsverkehr ersichtlich nur unter der Voraussetzung zu, dass dabei ein Kondom genutzt werde, stehen ohne Präservativ vorgenommene sexuelle Handlungen ihrem erkennbaren Willen entgegen.” Der Gebrauch eines Präservativs betreffe die Art und Weise des Sexualvollzugs und führe zu einer anderen qualitativen Bewertung. Schließlich könne ein Kondom eine unerwünschte Schwangerschaft oder die Übertragung von Krankheiten verhindern.
In ihrer Vernehmung gab die junge Frau aus Mannheim zu Protokoll, dass sie zunächst nicht gewusst habe, ob das, was ihr – wie sie vermutete – passiert war, überhaupt strafrechtlich relevant ist. Auf dem Weg von der Wohnung des Mannes zur Polizeidienststelle habe sie deshalb erst einmal gegoogelt. Sie habe sich aber in jedem Fall unwohl gefühlt; vor allem das gebrochene Vertrauen beschäftigte sie.
Dies ist auch das Ergebnis einer empirischen Studie einer US-amerikanischen Juristin aus dem Jahr 2017 zu dem ansonsten nur wenig erforschten Phänomen. Danach fühlen sich die betroffenen Frauen als Missbrauchsopfer. Vor allem der Vertrauensbruch und das Hinwegsetzen über ihre sexuelle Selbstbestimmung wogen für sie schwer, wie sie in Interviews erzählten.
Da Stealthing kein eigenständiger Tatbestand ist, der polizeilich erfasst werden könnte, gibt es dazu kaum Zahlen. Experten gehen davon aus, dass das Dunkelfeld zudem hoch ist, da sexualisierte Übergriffe insgesamt und Stealthing im Besonderen ein schambehaftetes Thema sind. “Die Betroffenen kommen in erster Linie zu uns, um sich nach einem Stealthing-Übergriff auf sexuell übertragbare Infektionen testen zu lassen”, ist die Erfahrung beim Zentrum für sexuelle Gesundheit Mannheim. Viele Betroffene machten sich auch Vorwürfe, dass sie sich haben “reinlegen” lassen.