Seit 1927 ruft der von Frauen initiierte Weltgebetstag am ersten Freitag im März zu Frieden, Versöhnung und Gleichberechtigung auf. Seit jeher ist sein Anspruch hochpolitisch. Doch selten berührten sich aktuelle Politik und der kirchliche Aktionstag derart intensiv wie in diesem Jahr. Angesichts des Angriffs der palästinensischen Terrororganisation Hamas auf Israel ist von vielen Seiten Kritik am Palästina-Schwerpunkt des aktuellen Weltgebetstages laut geworden. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) verteidigt Landesfrauenpastorin Susanne Paul aus Hannover das Format und erläutert, warum sie eindeutige Positionierungen im Streben nach Frieden und Versöhnung für kontraproduktiv hält.
epd: Der diesjährige Weltgebetstag am 1. März mit dem Fokus auf Palästina ist nach dem Hamas-Angriff auf Israel gewissermaßen auf die aktuelle weltpolitische Bühne gehievt worden und hat wegen antisemitisch interpretierbarer Materialien schon im Vorfeld viel Kritik erfahren. Das Deutsche Weltgebetstagskomitee hat die betreffenden Texte inzwischen überarbeitet. Reicht das?
Susanne Paul: Ich denke, das Komitee hat damit eine gut vertretbare Lösung gefunden. Es hat so wenig wie möglich in die Texte eingegriffen, sie aber zugleich so eingebettet, dass sie nicht ohne Weiteres antisemitisch oder antiisraelisch gelesen werden können. Damit trägt das Material zum einen dem aktuellen Nahost-Konflikt Rechnung, negiert aber nicht das ursprüngliche Ansinnen: nämlich die Stimmen der Christinnen in Palästina hörbar zu machen, die unter massivster Unterdrückung leiden.
Dafür müssen wir jetzt mit den Vorwürfen der Frauen aus Palästina leben, die diese Texte geschrieben haben und die Anpassungen des Komitees als schwerwiegenden Eingriff, als Zensur empfinden. Sie werfen uns vor, dass kein Land außer Deutschland einen solchen Eingriff gewagt habe. Das ist aus ihrer Perspektive absolut nachvollziehbar. Wir müssen aber dagegen halten, dass wir angesichts unserer historischen Verantwortung vor Israel keine Äußerungen unkommentiert stehen lassen können, die sich auch nur ansatzweise antisemitisch deuten lassen. Daraus resultiert ein Konflikt, der sich nicht wirklich auflösen lässt. Mit dieser Spannung müssen wir leben.
epd: Muss ein Format wie der Weltgebetstag, der im globalen Maßstab auf die Folgen von Gewalt, Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Unterdrückung hinweisen will, nicht ständig damit rechnen, in aktuelle politische Kontroversen zu geraten – und sich diesen stellen zu müssen?
Paul: Absolut. Ich würde sogar sagen, wenn der Weltgebetstag ständig von solch intensiven Debatten begleitet würde, hätte er die Aufmerksamkeit, die er verdient. Im Vorjahr beispielsweise richtete sich der Blick nach Taiwan, wo Gewalt gegen Frauen noch immer verbreitet ist und von Teilen der Gesellschaft akzeptiert wird. Ein, wie ich finde, nicht minder wichtiges Thema als die prekäre Situation der Frauen in Palästina. Doch es wurde weit weniger berichtet als in diesem Jahr.
epd: Allerdings kreist die aktuelle Berichterstattung ja weniger um den Weltgebetstag an sich als vielmehr um die Angemessenheit seines Themenschwerpunktes.
Paul: Noch einmal: Ich glaube, er ist angemessen, zumal er ja schon Jahre vor dem aktuellen Gaza-Krieg festgelegt wurde und unbeabsichtigt unter dieses Vorzeichen gerückt ist. Der Weltgebetstag will nicht das Leid der einen Seite gegen das Leid der anderen aufrechnen. Er will weder relativieren noch will er sich einseitig positionieren.
Ich bin überzeugt, in der jetzigen, überarbeiteten Fassung bietet das Material gute Anregungen, für Frieden in Nahost und für alle Menschen in der Region zu beten. Für die Frauen in Palästina zu beten, schließt nicht aus, zugleich für die Menschen in Israel zu beten, etwa für jene, die immer noch in tiefer Sorge um Angehörige leben müssen, die als Geiseln in der Gewalt der Hamas sind.
Ich glaube zudem, der Weltgebetstag muss den Mut haben, sich zwischen die Stühle zu setzen, um zu zeigen, dass es in vielen Konflikten nicht einfach nur um Schwarz-Weiß geht. Wir haben in der Vorbereitung gemerkt, dass der Reflex, sich schnellstmöglich auf eine Seite schlagen zu wollen, nicht zielführend ist. Zumindest dann nicht, wenn wir wirklich alle Menschen der Region in die Gebete einschließen wollen. Wir haben gelernt: Sensibel hinzuhören, den unterschiedlichen Stimmen Raum zu geben, ist für das Ansinnen des Weltgebetstages fruchtbarer als vorschnell zu urteilen.
epd: In seinem globalen, interreligiösen und politischen Anspruch wirkt der nahezu 100 Jahre alte Weltgebetstag noch immer modern, fast schon „woke“. Ist es Zufall, dass dieses Format von Frauen entwickelt wurde? Oder anders gefragt: Wären Männern darauf gekommen?
Paul: Puh, schwierige Frage! Ich sperre mich vor einer Antwort, weil ich überhaupt keine Freundin geschlechtsbezogener Zuschreibungen bin. Aber ich denke schon, dass Frauen bei Themen wie Ungerechtigkeit, Machtgefälle, Ausbeutung und Gewalt oft eine größere Sensibilität haben – auch weil sie bis heute weitaus stärker von diesen Themen betroffen sind als Männer. Und sie hatten offenbar schon damals hervorragende Netzwerke. Anders hätten sie einen Aktionstag, an dem inzwischen rund 120 Länder mitwirken, sicher niemals auf die Beine stellen können.