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Seelsorge bis zur Hinrichtung – Tagebuch des Priesters Franz Stock

Sein Tagebuch ist ein Zeugnis der Nazi-Barbarei. Der Priester Franz Stock hat Hunderte französische Widerstandskämpfer und Geiseln zur Hinrichtung begleitet. Eine Arte-Dokumentation sieht ihn durchaus kritisch.

Die Franzosen nannten ihn “Seelsorger in der Hölle”. Rund 1.000 französische Widerstandskämpfer und Geiseln, aber auch deutsche Soldaten, hat der aus Arnsberg in Westfalen stammende katholische Priester Franz Stock während der Nazi-Herrschaft im besetzten Paris betreut und sie zur Hinrichtungsstätte in der Festung Mont Valérien begleitet.

Im Januar 1942 begann Stock ein Tagebuch, in dem er bis August 1944 insgesamt 863 Erschießungen notierte und kommentierte. “Georges Giraud, wegen Amtsanmaßung, gebeichtet, gut gestorben, hinterlässt einen fünfjährigen Jungen, eine Frau, die ein Kind erwartet und sehr an ihm hängt” – so notierte der Sauerländer fast stenogramm-artig seine Erlebnisse.

Das Tagebuch steht im Mittelpunkt eines 53-minütigen Dokumentarfilms, den der Kulturkanal Arte am 1. April in Erstausstrahlung zeigt. Die Autoren nennen die Aufzeichnungen eine Stimme gegen das Vergessen aus der dunkelsten Zeit der deutsch-französischen Geschichte.

Die Dokumentation führt an die Originalschauplätze und nutzt auch Archivmaterial aus dem besetzten Paris. Immer wieder werden Auszüge aus dem Tagebuch eingeflochten. Zugleich werden die Geschichte des französischen Widerstands und die brutale Antwort der Deutschen erzählt – die Geiseln in einem Ausmaß erschossen, das jedem Kriegsrecht widersprach.

Stock, der fließend Französisch sprach, wird als einfühlsamer Seelsorger beschrieben, der sich in kaum auszuhaltenden Zwangslagen befand. Als Seelsorger der Wehrmacht kümmerte er sich im Nebenamt um Gefangene – und weigerte sich, statt der Soutane Uniform zu tragen. Als die Gestapo französischen Geistlichen den Zugang zu den zum Tode Verurteilten verweigerte, meldete er sich freiwillig. Er spendete die Sterbesakramente, sprach Trost zu und las auch jüdischen Häftlingen aus dem Alten Testament vor. Heimlich informierte er Angehörige, überbrachte persönliche Gegenstände wie Eheringe und warnte Widerstandskämpfer. Eine Gratwanderung unter höchster Anspannung.

Zugleich sieht die Dokumentation den Geistlichen durchaus kritisch: Stock habe einerseits den Verurteilten beigestanden und ihnen bis zum Hinrichtungspfahl Halt gegeben. Andererseits habe er damit auch geholfen, die Exekutionen indirekt zu legitimieren, sagt die Münchner Historikerin Dagmar Pöpping. “Der Priester war Teil der Hinrichtung.”

Der katholische Bischof von Nanterre, Matthieu Rougé, zeigt sich enttäuscht über manche Eintragungen von Stock: Er habe nur wenig von dem preisgegeben, was er dachte und fühlte. Und kaum etwas über seine Haltung zum Nationalsozialismus verraten. “Stock war zutiefst deutsch, aber zugleich war er ein Jünger Jesu Christi, der offen war für die Brüderlichkeit mit allen.”

Der französische Historiker Etienne Francois betont, Stock habe im Tagebuch die Wortwahl der deutschen Besatzer übernommen und etwa von Terroristen statt Widerstandskämpfern geschrieben – unklar, ob er sich mit der Haltung der Besatzer identifizierte, oder ob er sich schützen wollte. Zumindest bei den Geisel-Erschießungen, die durch kein Todesurteil legitimiert waren, habe der Geistliche großes Unbehagen verspürt, vermutet Francois.

Stock, 1904 als erstes von neun Kindern einer Arbeiterfamilie im sauerländischen Arnsberg-Neheim geboren, gehörte der katholischen Jugendbewegung Quickborn an. Die Teilnahme an einem Friedenstreffen junger Europäer in Frankreich 1926 prägte ihn. Zwei Jahre später ging er zum Studium an das Institut Catholique in Paris, wo er der erste deutsche Theologiestudent seit dem Ersten Weltkrieg war. 1934 übernahm er bis Kriegsbeginn 1939 die Leitung der deutschen Pfarrei in Paris. 1940 kam er mit den Besatzern zurück.

Die Befreiung von Paris im August 1944 setzte diesem Wirken ein Ende. Der Seelsorger der Gefangenen kam selbst in US-Gefangenschaft. Doch französische Priester gaben seiner Inhaftierung einen neuen Sinn: Zuerst in Orleans und später in Chartres kam es zur Gründung eines “Priesterseminars hinter Stacheldraht”, dessen Leiter Stock wurde. Die Einrichtung ermöglichte bis 1947 fast tausend, meist deutschen Theologiestudenten ein Studium in Gefangenschaft. Der päpstliche Nuntius Angelo Giuseppe Roncalli, der spätere Papst Johannes XXIII., sagte bei einem Lagerbesuch: “Franz Stock, das ist kein Name – das ist ein Programm.”

Entkräftet und einsam starb Stock 43-jährig am 24. Februar 1948 in Paris an seinem Herzleiden. Zunächst wäre er beinahe in einem Massengrab verscharrt worden. Doch schon 1949 fand eine öffentliche Gedenkfeier im Invalidendom statt. Der Vorplatz, der zum Mémorial de la France combattante auf der Hinrichtungsstätte Mont-Valérien führt, ist nach ihm benannt.

Im Sommer 1963 wurde sein Leichnam nach Chartres überführt. Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Helmut Kohl, Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy und Emmanuel Macron würdigten ihn als Symbol für Versöhnung.