Mitten in der Nacht erhält Matthias Lohre die Nachricht, dass sein betagter Vater als Geisterfahrer einen Unfall verursacht hat und dabei gestorben ist. Die Todesnachricht berührt ihn kaum, eher die Sorge um das andere Unfallopfer. Tot wirke sein Vater „nicht abwesender, als er es lebendig war“. Er stellt fest, dass ihm seine Eltern innerlich ein Leben lang fremd geblieben sind. Für Lohre der Anlass, diesem Gefühl nachzuspüren und sich mit seiner Familiengeschichte zu beschäftigen. In seinem Buch „Das Erbe der Kriegsenkel“ nimmt der Journalist die Leser mit auf eine persönliche Spurensuche.
Das Leben der Vorfahren hat Auswirkung
Lohre ahnt, dass seine Ruhelosigkeit, sein Perfektionismus und seine Bindungsangst etwas mit dem seelischen Erbe zu tun haben, das ihm seine Eltern hinterlassen haben. „Ich habe keine Ahnung, wer ich bin.“ Schon vor dem Tod des Vaters hatte der Autor eine Psychoanalyse begonnen, um sich selbst näher zu kommen. Dabei wurde ihm auch klar, was seine Vorfahren mit seinen Problemen zu tun hatten.
Seine Eltern lebten ein unspektakuläres, unauffälliges Leben – eigentlich kein Grund, die eigene Familiengeschichte in einem Buch auszuwälzen. Doch Lohre merkt, dass sein Leben „voller Parallelen“ zu Millionen anderer Beziehungen zwischen alten Eltern und ihrem zwischen 1955 und 1975 geborenen Nachwuchs ist.
Diese „Kriegsenkel“-Generation teilt ein Lebensgefühl: Heimatlosigkeit, Existenzangst, Selbstzweifel, Bindungsprobleme, ständige Anspannung, das Gefühl, bei den Eltern etwas wieder gutmachen zu müssen. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts sei ausführlich erforscht; die Historie der eigenen Vorfahren liege dagegen meist verborgen „hinter rätselhaften Anekdoten und beredtem Schweigen“, stellt Lohre fest.
Lohre erinnert sich kaum an seine Kindheit, „die Jahre schienen ereignis- und lautlos dahingeflossen zu sein“; ein merkwürdiger „Nebel“ und eine trügerische Ruhe hätten alles eingehüllt. In seinem Elternhaus habe eine trübsinnige „Atmosphäre permanenter Anspannung“ geherrscht: Gefühle wurden nicht gezeigt, außer von seinem cholerischen, emotional unerreichbaren Vater.
Der Autor lässt den Leser teilhaben an dem Versuch, das Leben seiner Eltern zu rekonstruieren – anhand biographischer Daten, Fotos, persönlicher Erinnerungen, anhand von Besuchen in seinem Heimatort, bei Verwandten, am Grab seiner Eltern, an der Unfallstelle. Lohre trifft zunächst einen Heimatforscher in der Heimatstadt seines Vaters. Ein wichtiger Mosaikstein ist gefunden, als der Autor von einem sadistischen Lehrer erfährt, der auch seinen Vater grundlos verprügelt hat. Der Lehrer war Offizier im Ersten Weltkrieg, einer von 7,2 Millionen Männern, die körperlich und seelisch verwundet aus dieser „Trauma-Fabrik“ zurückgekehrt seien.
Für Lohre sind die Ursachen der Traumata des Zweiten Weltkrieges nur zu verstehen, „wenn wir die des Ersten Weltkrieges begreifen“. Eine emotional verstummte Generation habe die nächste gezeugt. Dabei sei nicht eine Notsituation an sich traumatisch, sondern „das Erlebnis von vollkommener Hilflosig- und Einsamkeit“.
Dabei müssen es gar nicht die großen Katastrophen sein – traumatisch könne auch eine lieblose Kindheit an sich gewesen sein. Denn fehlt eine empathische Bezugsperson, die die Gefühle des Kindes wahrnimmt, bleibt diesem sein Inneres fremd, es entwickelt keinen Blick für sich selbst. Und so hätten auch seine Eltern in jungen Jahren gelernt, sich zusammenzureißen, das eigene Leid nicht zu spüren, Gefühle zu unterdrücken und zu funktionieren. Wer aber nicht fühlt, könne nicht mitfühlen – auch nicht mit den eigenen Kindern. Der Kreis schließt sich.
„Die Kindheitserlebnisse der Kriegsgeneration haben sich auf verschlungenen Wegen in ihren Nachkommen festgesetzt.“ Dieses verdrängte Erbe belaste bis heute Millionen Menschen. Es sei nun die Aufgabe der Kriegsenkel, „die seelischen Trümmer zu beseitigen“, um endlich ein glückliches Leben führen zu können.
Lohre zeigt, wie er sich dieser Aufgabe gestellt hat. Er will ermutigen, das jahrzehntelange Schweigen zu brechen und mit den noch Lebenden – verbliebene Angehörige, Freunde, Nachbarn und Kollegen der Eltern – zu sprechen. Viele warteten geradezu darauf, „ihre Erinnerungen teilen zu dürfen“, wie der Autor aus eigener Erfahrung weiß. „Jetzt haben wir die letzte Chance, miteinander ins Gespräch zu kommen.“ Um mit den eigenen Eltern Frieden zu schließen, seien auch der Kontakt mit anderen Kriegsenkeln, das Lesen einschlägiger Bücher, Familienaufstellungen und professionelle Unterstützung hilfreich.
Einen aussichtslosen Kampf aufgeben
Lohre ist es gelungen, die Zusammenhänge und Dynamiken darzustellen, die traumatisierte Generationen miteinander verbinden. Doch jetzt ist es für ihn an der Zeit, Mitgefühl mit sich selbst zu entwickeln und sein eigenes Leben zu leben – statt die eigenen, bedürftigen Eltern zu verteidigen und sie noch als Erwachsener glücklich machen zu wollen. „Wer einen Kampf, den er nie gewinnen konnte, aufgibt, hat nicht verloren, sondern gewinnt Kraft für Neues.“ Etwa für das eigene Leben.
Matthias Lohre: Das Erbe der Kriegsenkel. Gütersloher Verlagshaus, 256 Seiten, 19,99 Euro.