Es gibt manches, was sie verbindet, worin sie sich ähneln: Märchen und Religion, Märchen und christliche Anschauungen und Erfahrungen. Da gibt es zunächst – freilich eher beiläufig – Redewendungen und angedeutete Haltungen. So wird in einigen Märchen der Gebrüder Grimm Gott um Hilfe angerufen, „Ach Gott“ geseufzt oder ein Abendgebet gesprochen. Es wird sich auf Gott verlassen und ihm gedankt, sein Segen und Schutz erbeten, Entscheidungen werden „in Gottes Namen“ getroffen, „durch Gottes Gnade“ Verwunschene erlöst. Böse Figuren gelten als „gottlos“. Selbst eine Wassernixe geht zur Kirche. Schutzengel, der Himmel, das Christkind, auch mal ein Pfarrer und die Bibel finden Erwähnung.
Anspielungen aufs Alte Testament
Auch gibt es Märchen, in denen der Apostel Petrus eine prominente Rolle innehat und einige, in denen der Teufel einen entscheidenden Part spielt. In zweien („Der Arme und der Reiche“ und „Der Gevatter Tod“) tritt Gott sogar persönlich auf. Diese Gruppe von Märchen unterscheidet sich aber durch ihr „Personal“ erheblich von den uns vertrauteren und bekannteren.

In einigen Märchen wiederum gibt es Anspielungen auf Szenen des Alten Testaments. So erinnert „Das singende springende Löweneckerchen“ und sein französisches Pendant „Die Schöne und das Biest“ an die Geschichte von Jephta und seiner Tochter. Wie dieser Gott im Falle seines Sieges über die Ammoniter zusagt, ihm das Wesen zu opfern, das ihm bei seiner Rückkehr als erstes begegnet, tun dies die Kaufleute in den zwei Märchen, um sich aus der Bedrohung durch ein wildes Tier zu befreien. Es ist hier wie in der Erzählung im Alten Testament die eigene Tochter, die allerdings in den Märchen überlebt und durch ihre Liebe aus dem Ungeheuer den darunter verborgenen verwunschenen Prinzen gewinnt.
Motive aus der griechischen Mythologie
An anderer Stelle verarbeiten Märchen Motive aus der Mythologie. Ein besonders bizarres Beispiel liefert „Das tapfere Schneiderlein“, als es das Wildschwein fängt. Dieses Untier, das alle das Fürchten lehrt und gewaltigen Schaden im Land anrichtet, erinnert an den kalydonischen Eber, den mehrere griechische Helden zur Strecke bringen oder an den erymanthischen, den Herkules allein besiegt. Das tapfere Schneiderlein springt in eine Kapelle im Wald und zum Fenster wieder hinaus und sperrt das nachfolgende Wildschwein in der Kapelle ein.
Hier wird also ein Motiv aus der griechischen Mythologie mit einem christlichen Andachts- und Gebetsraum zusammengebracht. Neben solch skurrilen Verknüpfungen besteht die Verwandtschaft zwischen Märchen und Religion darin, dass beide universale Fragen der Menschen behandeln. Sie thematisieren Glück und Trauer, Leben und Tod, Gut und Böse, Liebe und Hass, Schuld und Versöhnung.
Helden werden ähnlich charakterisiert
Auch gibt es formale Ähnlichkeiten bei biblischen Erzählungen und Märchen. Beide gebrauchen zum Beispiel Symbole, in beiden finden sich sprechende und helfende Tiere und übernatürliche Erscheinungen aller Art.

Die tiefste Verbundenheit besteht aber in der Art, wie die Märchenhelden – Frauen wie Männer – charakterisiert sind und wie ihre Abenteuer vonstatten gehen. Oftmals Stiefkinder oder als schwach, einfältig und anderweitig verachtet und unterschätzt, machen sie sich wie Abraham aus ihrem Umfeld in ein ungewisses Abenteuer auf. Religiös gesprochen sind sie Fremdlinge, zu Gast auf dieser Erde. Sie erfahren, dass hier Schein und Sein auseinanderklaffen, aber auch, dass diesseitige und jenseitige Welt eng miteinander verbunden sind.
Märchenhelden werden für andere zum Helfer
Hilfsbedürftig wie der Mensch schlechthin, sind die Märchenhelden zugleich offen für unerwartete hilfreiche Eingriffe, auch durch sonderbare Wesen. Auf ihrem Reifungsweg müssen sie viel erdulden, sammeln aber so Kräfte, um für andere zum Helfer und Erlöser zu werden. Und sie sind selbst wie der Mensch schlechthin erlösungsbedürftig. Wenn sie dann am Ende Erlösung erfahren, kommt auch ihr eigentliches Wesen ans Licht; ein Wesen, das, pathetisch gesprochen, Gott dem Menschen gegeben und ihn veranlasst hat, es zu entdecken.