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Rudolf Steiner: Zwischen Karma, Kosmos und Esoterik

Vor 100 Jahren starb Rudolf Steiner, der österreichische Philosoph und Begründer der Anthroposophie. Seine Impulse für Praxisfelder wie Waldorfschulen, Medizin und Landwirtschaft stießen nach wie vor auf ein Bedürfnis vieler Menschen nach ganzheitlichen Ansätzen, sagte der Steiner-Biograf Helmut Zander dem Evangelischen Pressedienst (epd). Jedoch basiere Steiners Weltbild auf nicht nachprüfbaren Elementen. Zander war Professor für Religionsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz).

epd: Der 1861 im Habsburgerreich geborene und am 30. März 1925 im Alter von 64 Jahren gestorbene Rudolf Steiner entwickelte Reformen für viele Lebensbereiche. Dies alles basiert auf der Idee einer übersinnlich-geistigen Schau. Kann man Steiner auch ohne dieses esoterische Weltbild verstehen?

Helmut Zander: Nein, das ist ein elementarer Teil. Ohne diese Esoterik fehlt Rudolf Steiners Weltbild nach 1900 seine Grundlage. Er beginnt mit einer philosophischen akademischen Karriere. Dann wurde er 1902 Mitglied der Theosophischen Gesellschaft, bevor er die anthroposophische Bewegung begründete. Sein großer Gegner war seit 1900 der Materialismus.

epd: Die Theosophische Gesellschaft war ja eine der einflussreichsten esoterischen Bewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Was hat Steiner übernommen?

Zander: Vor allem die Überzeugung: Es gibt eine höhere, geistige Welt, man kann sie erkennen, man kann die Wirkungen nutzbar machen. Der späte Steiner ist zwar auf eine gewisse Distanz zu manchen theosophischen Annahmen gegangen, aber im Prinzip bleiben sie für ihn die Grundlage.

epd: Welche Rolle spielt Steiner in der anthroposophischen Bewegung?

Zander: Der Jesus der Anthroposophie heißt Rudolf Steiner. Man verlässt sich auf seine Erkenntnis, seine Aussagen, seine Praxis. Wenn man sich zum Beispiel gesund mit Demeter ernährt, wird das zu einem Nachweis, dass Steiner irgendwie recht gehabt habe. Strukturell ist das wie eine Art Gottesbeweis.

epd: Waldorfschulen, anthroposophische Medizin, Reform der Landwirtschaft: Wie hat sich das alles entwickelt?

Zander: Nach dem Ersten Weltkrieg entstehen Schritt für Schritt Praxisfelder, und zwar immer nach dem gleichen Muster. Es gibt Menschen, die kommen auf Steiner mit Anfragen zu, er reagiert und liefert. Das ist 1919 das sozial-politische Programm der Dreigliederung, dann kommt noch im gleichen Jahr die Waldorfschule, ein Jahr später die Medizin, 1922 die Christengemeinschaft – eine von seinem Geist inspirierte Kirche – 1924 folgen die Landwirtschaft und die Heilpädagogik.

epd: Wie viel Esoterik steckt noch in all diesen Bereichen?

Zander: Diese Praxisfelder sind eine Kombination aus Lebensreform und theosophischem Okkultismus, der dann in die Anthroposophie einfließt. Man versteht keines dieser Felder, ohne die esoterische Dimension einzubeziehen. Das bedeutet beispielsweise in der Landwirtschaft, dass dort kosmische Kräfte wirken sollen. Oder: das Menschenbild in der Heilpädagogik und der Medizin bezieht die Annahme der Reinkarnation ein. Erst wenn man diese Ebene erkennt, versteht man die interne Logik für Präparate in der Landwirtschaft oder Medikamente in der Medizin. Die konkreten Praktiken, etwa die homöopathischen Präparate in der Medizin oder die handwerklichen und musischen Schwerpunkte in der Pädagogik hingegen kommen aus den Alternativbewegungen in dieser Zeit.

epd: Ist die Anthroposophie ein geschlossenes Weltbild oder gibt es unterschiedliche Interpretationen und Ansichten?

Zander: Es gibt ein absolutes, geschlossenes Fundament, das sind Steiners Schriften. Aber darin trifft man durchaus auf unterschiedliche Ansichten, auch, weil Steiners Werk in sich nicht konsistent ist. Sein 400-bändiges Werk besteht größtenteils aus einzelnen Vorträgen, die dokumentieren, wie Steiner Positionen verändert oder die gleichen Themen unterschiedlich erläutert hat. Beim Impfen etwa gibt es unterschiedliche Interpretationen in der Anthroposophie. Steiner war kritisch gegenüber Impfungen, verbot sie jedoch nicht. Seiner Meinung nach haben Menschen, die sich impfen lassen, die höheren spirituellen Zusammenhänge noch nicht verstanden. Sobald man jedoch die volle Erkenntnis als Anthroposoph erlangt habe, brauche man keine Impfung mehr. Heute gibt es anthroposophische Ärzte, die impfen, und solche, die es nicht tun.

epd: Steiner werden antisemitische Äußerungen vorgeworfen. Besonders umstritten ist eine Äußerung von 1888, in der er schreibt, das heutige Judentum sei ein „Fehler der Weltgeschichte“. Später sprach er sich jedoch selbst klar gegen Antisemitismus aus. Umstritten ist zudem seine Rassentheorie, wo er bestimmte Ethnien als „rückständig“ bewertet. Können Sie das einordnen?

Zander: Seine Aussagen über das Judentum sind sehr viel komplizierter als seine Rassentheorie. Er konnte sich in den 1880er Jahren antijudaistisch äußern, obwohl er in einer jüdischen Familie lebte. Er konnte in der Tat von der Auflösung des Judentums sprechen, aber im Sinn einer Assimilation an die herrschende Kultur. Einen eliminatorischen Antisemitismus hatte er nicht im Sinn. Seine Rassenlehre hat er dann als Theosoph nach 1900 entwickelt. Noch zwei Jahre vor seinem Tod sagte er, dass die weiße Rasse die zukünftige sei, „die am Geiste schaffende Rasse“. Im Hintergrund steht ein Evolutionsdenken, im Grunde ein popularisierter Sozialdarwinismus. Demnach gibt es Menschen oder auch Völker, die degenerieren und andere, die mit dem Fortschritt verbunden sind.

epd: Wie gehen Anthroposophen damit um?

Zander: Insgesamt werden Inhalte bei Steiner, die heute inakzeptabel sind, in der Anthroposophischen Gemeinschaft nicht angemessen bearbeitet. Die Anthropologie hat den Rassenbegriff des 19. Jahrhunderts verabschiedet, es gibt im Sinne des 19. Jahrhunderts keine Rassen, nur Merkmalshäufigkeiten. Dennoch tun sich Anthroposophen schwer, zu sagen, dass Steiners Theorie nicht mehr dem Stand der heutigen Forschung entspricht und insofern verabschiedet werden muss. Aber die Rassentheorie illustriert nur exemplarisch ein Riesenproblem für die Anthroposophie, dass vieles so eng mit dem 19. Jahrhundert verbunden ist.

epd: Was bleibt von Rudolf Steiner?

Zander: Die anthroposophische Esoterik interessiert relativ wenige Menschen. Ich glaube, man kann es daran ablesen, dass die Zahl der Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft und ihrer esoterischen „Klasse“ seit Jahren zurückgeht. Was aber attraktiv bleibt innerhalb und außerhalb der Anthroposophie, das sind die Praxisfelder wie Waldorfschulen, Medizin und Landwirtschaft. Und zwar deshalb, weil sie auf aktuell brennende Bedürfnisse reagieren: Eltern möchten gerne eine stressfreie Erziehung für ihre Kinder, in der Landwirtschaft wollen wir nicht alles essen, was mit Antibiotika und Herbiziden vollgepumpt ist. Attraktiv ist eine Medizin, die nicht den Grenznutzen einer High-Tech-Medizin bis ans Ende ausreizt, sondern, sofern möglich, sanftere Methoden oder Naturheilverfahren nutzt. Ich glaube, letztlich bleiben viele anthroposophische Ideen attraktiv, weil sie weiterhin einen Nerv der Zeit treffen.