Glimmstängel, Glücksspiel, Gaming: Sucht in Deutschland hat viele Gesichter. So richtig hinsehen wollen offenbar nur wenige, kritisieren Fachleute – und erklären, woran es im System hakt.
Suchterkrankungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in Deutschland. Während Betroffene oft mit Stigmatisierung kämpfen, werden Gefahren zugleich unterschätzt. Das Jahrbuch Sucht, das die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) am Donnerstag veröffentlicht hat, kommt zu dem alarmierenden Fazit: Deutschland hat ein massives Suchtproblem.
Oder eigentlich gleich mehrere. So stagnieren Alkohol- und Zigarettenkonsum auf hohem Niveau: Bei 7,9 Millionen Menschen ist von gesundheitlich riskantem Alkoholkonsum auszugehen, bei weiteren 12 Millionen von “episodischem Rauschtrinken”. Alkohol sei in keinem anderen europäischen Land so erschwinglich wie hierzulande – die Biersteuer sei zuletzt 1993 erhöht worden, auf Wein werde keine Verbrauchssteuer erhoben, kritisiert DHS-Geschäftsführerin Christina Rummel. Dabei zeigten Vergleiche mit anderen Ländern und die Forschung, dass Preiserhöhungen ein effektives Mittel seien, um den Alkoholkonsum zu senken.
Ebenso sei das Rauchen weiterhin sehr verbreitet: Ein knappes Drittel der Bevölkerung (30,4 Prozent) griff laut Jahrbuch im vergangenen Jahr zum Glimmstängel. Unter jungen Menschen sei dieser Anteil geringer – sie nutzten allerdings verstärkt sogenannte verwandte Nikotinprodukte wie E-Zigaretten, Tabakerhitzer oder Wasserpfeifen. Auch der Gesamtabsatz von Fertigzigaretten sei erstmals gestiegen.
Die Zahl medikamentenabhängiger Personen wird auf 2,9 Millionen geschätzt; Cannabis ist auf Platz zwei der Gründe vorgerückt, aus denen Menschen ein Suchthilfeangebot aufsuchen – nach Alkohol. Problematischer Cannabis-Konsum ist demnach unter jungen Männern besonders verbreitet – der Anteil unter jungen Erwachsenen habe sich zuletzt mehr als verdoppelt.
Weiterhin sei zunehmender Mischdrogengebrauch zu beobachten: 1,2 Prozent aller Jugendlichen und 3,6 Prozent der Erwachsenen hätten im vergangenen Jahr mindestens eine illegale Droge konsumiert. Vor allem Amphetamine und neue psychoaktive Stoffe spielten eine wachsende Rolle. Als Grund für deren Konsum werde am häufigsten “Spaß haben” genannt. Mancherorts tauchten verstärkt Crack und Fentanyl auf – Entwicklungen, auf die sich die Drogenhilfe einstellen müsse: Mit diesen Substanzen verschlechterten sich Gesundheit und soziale Situation meist “rapide und dramatisch”.
Das sind nur die substanzbezogenen Abhängigkeiten. Auch auf dem Glücksspielmarkt sind die Umsätze laut Jahrbuch zuletzt gestiegen: Dies sei vor allem auf die Legalisierung von Sportwetten und des virtuellen Automatenspiels sowie Online-Poker zurückzuführen. Menschen mit der Hauptdiagnose “Pathologisches Spielen” haben besonders häufig besonders hohe Schulden. Und: “Offenbar geht bereits ein riskantes Glücksspielverhalten mit einer Beeinträchtigung der Lebensqualität einher.” Auch das soziale Umfeld von Betroffenen leide, es gehe also nicht um ein individuelles Problem.
Computerspielsucht wurde 2019 von der Weltgesundheitsorganisation als Störungsbild anerkannt. Dieses erschöpft sich laut Jahrbuch nicht in exzessivem Spielen: Auch bei anderen Formen unkontrollierter Internetnutzung drohten psychosoziale Probleme, etwa beim Shopping, Porno-Konsum oder der Nutzung Sozialer Netzwerke. Letztere Störung bezeichnen die Fachleute als “die Unbekannte”: Einerseits sei die Dunkelziffer hoch, andererseits erlebten sich sowohl Betroffene selbst als auch deren Umfeld selten als suchtbetroffen. Eher nähmen sie Müdigkeit, Niedergeschlagenheit oder eine Distanzierung von ihrem sozialen Umfeld wahr.
Darüber hinaus träten Süchte selten als isolierte psychische Störung auf, erklärt der Vorstandsvorsitzende der Hauptstelle, Norbert Scherbaum. Viele entwickelten depressive Erkrankungen oder soziale Phobien; Betroffene etwa von ADHS hätten ein erhöhtes Risiko. Allerdings sei es weiterhin schwierig, eine ADHS-Diagnose und entsprechende Behandlung zu erhalten, kritisieren der Psychiater Ahmed Zaher und der Suchtmediziner Mathias Luderer in ihrem Beitrag.
Die neurobiologische Entwicklungsstörung ADHS beginnt im Kindes- und Jugendalter; in dieser Lebensphase zählt sie zu den am häufigsten diagnostizierten psychischen Erkrankungen. Sie ist vor allem durch Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität gekennzeichnet, die sich nicht anderweitig erklären lassen. Daher drohe ein regelrechter Teufelskreis, so die Experten: “Impulsivität erhöht das Risiko für Konsum, und regelmäßiger Konsum in der Adoleszenz erhöht die Impulsivität.” Auch neigten Betroffene zu kleineren, sofortigen Belohnungen, was das Risiko für exzessiven Konsum erhöhe.