„Was für eine Gesellschaft sind wir, wenn Jüdinnen und Juden aus Furcht vor Antisemitismus ihre Identität verschweigen“, fragt Pastorin Ursula Rudnick. Von vielen befreundeten Jüdinnen und Juden höre sie, dass sie sich nicht mehr zu erkennen geben, so groß sei ihre Sorge um ihre physische Unversehrtheit. „Ihre Wahrnehmung der Welt hat sich dramatisch verändert“, so die Pastorin, die als Referentin für Kirche und Judentum in der hannoverschen Landeskirche tätig ist. Nicht nur sie ist besorgt.
Auch Ulrike Offenberg, Rabbinerin der liberalen jüdischen Gemeinde in Hameln, spricht von einer verbreiteten Verunsicherung unter Jüdinnen und Juden in Deutschland seit dem Überfall der Hamas auf Israel. „Die Erde hat gebebt. Alles, was als sicher galt, was Halt gab, ist seitdem erschüttert“, so die Rabbinerin. „Wir bewegen uns von einer als selbstverständlich angenommenen Zugehörigkeit weg.“ Ältere Glaubensgeschwister seien retraumatisiert. Auch die Enkelgeneration, die den Holocaust nur vom Hörensagen kenne, fühle sich bedroht, berichtet Offenberg, die vor Kurzem für ihren Einsatz im jüdisch-christlichen Dialog mit dem „Blickwechselpreis 2024“ geehrt wurde. „Es tut weh zu erleben, welche Feindseligkeit sich entlädt.“
Zahl der antisemitisch motivierten Straftaten um 60 Prozent gestiegen
Eine Zahl bestätigt den Ernst der Lage. So habe es im Bereich Antisemitismus im vergangenen Jahr 60 Prozent mehr Straftaten gegeben, sagt Gerhard Wegner, Landesbeauftragter gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens. „Darunter sind so fürchterliche Sachen wie der Anschlag auf die Oldenburger Synagoge.“

Die jüdische Gemeinde in Hameln, die von der Polizei bewacht wird, mache angesichts der Entwicklung Gesprächsangebote vor den Gottesdiensten oder per Zoom, berichtet Offenberg. „Viele wollen ihre Verzweiflung ausdrücken und über ihre Angst sprechen.“ Die Synagogen seien daher zu einem wichtigen Treffpunkt geworden. „Hier erleben Jüdinnen und Juden eine schützende Gemeinschaft.“