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Psychologin über den Umgang mit Traumata bei Geflüchteten

Ertrinkende Menschen oder brutale Grenzgewalt: Wer flüchtet, erlebt oft Grausamkeiten. Eine Psychologin erklärt, was nötig wäre, um Betroffene hierzulande aufzufangen – und wie ein Trauma überhaupt entsteht.

Menschen mit Posttraumatischer Belastungsstörung behandeln – das ist einer der klinischen Schwerpunkte von Miriam Biermann. Die psychologische Psychotherapeutin ist Leitende Psychologin an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) fordert sie einen kultursensiblen Ansatz in der psychiatrischen Versorgung, um Menschen mit Migrationshintergrund und Geflüchtete besser zu erreichen.

Frage: Naturkatastrophen, Gewalt-, Kriegs- und Fluchterfahrungen können schwere Traumata auslösen. Doch soweit kommt es nicht bei allen. Woran liegt es, dass die einen darüber hinwegkommen, andere nicht?

Antwort: In der Tat erholen sich die meisten Menschen, denen Schlimmes widerfahren ist, von selbst. Aber eine Minderheit entwickelt Symptome. Bei Kindern und Jugendlichen liegt die Quote derer, die nach einer traumatischen Erfahrung tatsächliche Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung – PTBS – entwickeln, bei rund 16 Prozent. Zum Teil dauert es Jahre, ehe die Folgen sichtbar und die Menschen krank werden. Die Gründe sind vielschichtig; manches ist Veranlagung, anderes hängt mit der Umgebung zusammen, in der sich der Betroffene befindet: Hat er eine Familie oder Freunde, die ihn unterstützen, können die Betroffenen über das Erlebte sprechen, leben sie in stabilen Strukturen.

Frage: Was heißt “krank” in diesem Zusammenhang?

Antwort: Manche traumatisierte Menschen entwickeln eine Posttraumatische Entwicklungsstörung, die durch mehrere Merkmale gekennzeichnet ist. Zum Beispiel dadurch, dass die Betroffenen das traumatische Erlebnis wiedererleben in Form von sogenannten Intrusionen oder Flashbacks, als würde es jetzt gerade noch einmal passieren. Sie vermeiden Orte, Situationen und Personen, die sie an das Trauma erinnern, sie empfinden starke Ängste vor einer erneuten traumatischen Erfahrung und sind in einem ständigen Habachtzustand.

Speziell bei Kindern und Jugendlichen zeigen sich die Folgen traumatischer Erfahrungen oftmals über Verhaltensauffälligkeiten wie Probleme im Sozialverhalten, verstärkt aggressives oder ängstliches Verhalten. Auch selbstverletzendes Verhalten und Drogenmissbrauch können ein Symptom sein.

Frage: Wie lässt sich verhindern, dass sich ein Trauma in eine schwere psychische Erkrankung entwickelt?

Antwort: Früher wurde davon ausgegangen, dass sofort nach dem Ereignis ein “Debriefing” stattfinden muss – Betroffene, die zum Beispiel bei einem schweren Verkehrsunfall als Helfer im Einsatz waren, sollten unmittelbar danach in Gruppen über das Erlebte sprechen. Solche erzwungenen Frühinterventionen hatten jedoch, wenn überhaupt, tendenziell eher negative Effekte. Der aktuelle Ansatz lautet: watch and wait.

Frage: Das heißt, es wird einfach abgewartet?

Antwort: Es wird abgewartet, aber nicht nur: Den Betroffenen wird gleichzeitig eine Tür gezeigt, ihnen werden Beratungsangebote präsentiert, die sie jetzt oder später oder gar nicht nutzen können. Im Optimalfall wird in regelmäßigen Abständen Kontakt aufgenommen und geschaut, wie es der Person geht. Wenn alles ok ist, wunderbar – wenn es sich ändert, wissen die Menschen, an wen sie sich wenden können.

Frage: Gibt es kulturelle Unterschiede bei der Verarbeitung von Traumata?

Antwort: Nicht bei der Verarbeitung, aber bei der Inanspruchnahme von Hilfen. Für uns in der westlichen Welt ist es zum Beispiel viel selbstverständlicher, über psychische Symptome und speziell im Kontext zwischenmenschlicher Traumata über sexuelle Gewalt zu sprechen als in anderen Kulturen. Auch sprachliche Barrieren halten Menschen davon ab, sich Hilfe zu suchen. Deshalb müssen wir transkulturelle Angebote machen, die kultursensibel und sehr niederschwellig sind, mit Psychologen und Psychotherapeuten, die dieselbe Sprache wie die Betroffenen sprechen.