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Psychiater: Nicht alle Ratgeber-Tipps krampfhaft umsetzen wollen

Zum Sport, zum Meditationskurs, gesund kochen und bloß kein Hobby oder gar Freunde vernachlässigen: Wer alle Ratschläge für ein gutes Leben umsetzt, gerät schnell in neuen Stress. Ein Experte verrät, wie es anders geht.

Eigene Stärken nutzen statt sämtliche Tipps aus Ratgebern umsetzen – dazu rät der Psychiater Henrik Walter. Jeder Mensch habe sogenannte Signaturstärken, sagte er der “Welt” (Mittwoch), also Dinge, die man gut könne und die in schwierigen Momenten helfen könnten. “Wenn Sie zum Beispiel jemand sind, dem Sinn im Leben viel bedeutet und der hier seine besonderen Stärken hat, lässt sich das nutzen. Jemand anderem hilft vor allem Sport, dem dritten soziale Kontakte und dem vierten kreative Tätigkeiten.”

Die Menschen wüssten heutzutage zu viel darüber, was alles gut tun könne. Viele Ratgeber “tun so, als ob irgendjemand all das machen könnte, was da drin steht. Meiner Erfahrung nach schafft das kaum ein Mensch”, so der Leiter des Fachbereichs “Mind and Brain” an der Berliner Charité. Zudem motivierten negative Erfahrung oft stärker als positive Ziele: “Wenn wir etwa den ersten Herzinfarkt hatten, dann fällt das Rauchen aufhören auf einmal leicht. Inzwischen hat man gut erforscht, dass gesunde Dinge auch Spaß machen müssen.”

Jede und jeder Einzelne könne sich fragen, was man selbst gut könne, welche Tätigkeiten eher Energie spendeten als raubten. “Das sind die Signaturstärken, charakteristisch für mich wie eine Unterschrift. Es geht darum, diese häufiger zu nutzen”, erklärte Walter. Umgekehrt könne man auf diese Weise erkennen, wo man aufpassen müsse: “Wenn eine Signaturstärke von mir etwa Freundlichkeit ist, dann werde ich zur Selbstausnutzung neigen.”

Der Experte kritisierte, dass viele Ratgeber eher an gesunde Menschen gerichtet seien. Dabei wollten auch Betroffene einer psychischen Erkrankung zufrieden und widerstandsfähig sein. Umgekehrt gebe es viele Menschen, die keine Krankheitssymptome hätten, aber schlicht unglücklich seien. Und: “Geringes Wohlbefinden kann auf lange Sicht zu Symptomen führen.”

Jede Eigenart habe ihre Vorzüge, fügte Walter hinzu: “Ein Buchhalter funktioniert besser in negativer Stimmung. Für einen Unternehmer gilt das Gegenteil.” Zudem gehe eine Neigung zum Grübeln oft “mit einer gewissen Tiefe des Denkens einher”. Kritisch werde es, wenn jemand dauerhaft die Zuversicht verliere: “Hoffnungslosigkeit ist typisch für Depressionen.”