Es sollte spontan aussehen und geschah in staatlich geplanter, zügelloser Brutalität. In der Dunkelheit einer Novembernacht, fortgesetzt am hellen Tag. Tageslicht störte die Mörder nicht im Geringsten. Eine geschichtliche Zäsur: Die Novemberpogrome 1938, mit denen die öffentliche Gewalt gegen deutsche Jüdinnen und Juden eine weitere abgründige Eskalationsstufe erreichte. Was lange zuvor schon durch die Hirne tobte, tobte nun auf den Straßen in maßlosen Gewaltexzessen.
Auf denselben Straßen gehen wir heute entlang, mit Kerzen in der Hand, und können doch nicht fassen, wie hier im großen Stil die Errungenschaften einer aufgeklärten, reichen Kulturlandschaft im gelegten Feuer, in den Fußtritten der Menschenverächter und im Gejohle von Claqueuren untergingen. Landesweit war die Zerstörungsspur vor 85 Jahren beispiellos. Nicht nur 1400 Synagogen und 7500 Geschäfte brannten, sondern der heiße Hass wütete gegen Menschenleben. Über 1300 Menschen wurden in diesen Tagen ermordet.
Aus lokalem Terror wurde ein Flächenbrand der Ausschreitungen
Radikalisiert war der Antisemitismus da schon längst. Tausendfache Deportationen von Juden und Jüdinnen aus dem „Reich“ waren bereits passiert. Auch dabei: die Familie Grynszpan. Deren Sohn Herschel schoss aus Verzweiflung den Diplomaten Ernst vom Rath nieder, der später starb. Ein Vorwand für die NSDAP, gegen die jüdische Bevölkerung loszuschlagen. Bekannt ist die Hetzrede Joseph Goebbels‘ beim Treffen der NSDAPler zum gescheiterten Hitler-Putsch. Erst hetzen die Worte, dann der Tod über Plätze, in Wohnungen und Häuser hinein.
Die Anordnungen zum Zerstören wurden von SA-Leuten telefonisch durchgegeben. Aus lokalem Terror wurde ein Flächenbrand der Ausschreitungen. Perfide, dass nur Maßnahmen getroffen werden sollten, die keine Gefährdung „deutschen Lebens“ oder Eigentums mit sich brächten. Perfide, dass Geschäfte und Wohnungen von jüdischen Menschen „nur zerstört, nicht geplündert werden“ sollten. SS und Gestapo nahmen 30000 – wie kalt können Zahlen sein – jüdische Männer fest, verschleppten sie in Konzentrationslager. Es folgte ein Verbot von Handel, Handwerk, Gewerbe für die jüdische Bevölkerung und damit das Wegbrechen der Existenzgrundlage.
Entrechtet, enteignet, verraten und verkauft
Wer es irgend schaffte, floh aus der deutschen Hölle, die nirgends einen Schutz nirgends bot. Entrechtet, enteignet, verraten und verkauft, auch von engsten Nachbarn, versehrt und verletzt an Leib und Seele, mit der Trauer um verlorene Angehörige; nun heimatlos und fremd in der Fremde.
Hier darf es nach 85 Jahren kein Abwinken geben, man kenne diese Geschichte. Robert Habeck hat recht: Es war die Generation unserer Großeltern, die jüdisches Leben vernichtet oder bei der Vernichtung dabeigestanden hat. Und heute? Wo Verhetzung durch Köpfe und Straßen zieht und sogar von Demokratiefeinden in Parlamenten versucht wird, werden wir als christliche Geschwister an der Seite der jüdischen Geschwister alle Kraft brauchen fürs Dagegenhalten.
Antisemitismus ist ein tödliches Problem
Misstraut allen, die meinen, irgendwann sei es gut mit dem Erinnern. Misstraut allen, die relativieren. Misstraut den Zynikern und denen, die provozieren und Tabus verschieben wollen. Glaube niemand, dass der Antisemitismus auch in unseren Kirchen und unserer Theologie hinreichend benannt ist. Menschen sind manipulierbar. Antisemitismus ist ein für die gesamte Gemeinschaft tödliches Problem unter Nachfahren und Zugewanderten.
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Wir schreiben 2023: Ein Pogrom-Albtraum durch tödliche Hamas-Terrorattacken in Israel wurde real. Kinder, Frauen, Männer, Familien gefoltert, vergewaltigt, traumatisiert. Zynisch propagandistisch hat die Hamas Bilder davon in die Welt gebracht. Unerträglich die täglich neuen Details. Und hier: auch gebrüllter Hass – bedrohlich. Jüdische Geschwister erfahren Antisemitismus, quer durch die Gesellschaft.
Statt Solidarität viel Kälte
Die Journalistin Esther Shapira beobachtet, die „Solidarität mit den jüdischen Opfern schmolz schneller als Israel brauchte, um seine Toten zu zählen“. Statt tröstlicher Solidarität gab es viel Kälte und Gemeinheit, schreibt sie.
Pogromgedenken 2023: Erinnern ist, Scham, Schmerz und Trauer auszuhalten. Und dann aus der Kraft der Erinnerung klar werden. Zeigen wir uns solidarisch, couragiert, priorisieren, was jetzt dran ist. Mit einem Denk-Tag ist es nicht getan. Haltung zur Hilfe finden, zum Versprechen, jüdisches Leben zu schützen, unterstützen, fördern, stärken, denn: „Nie wieder ist jetzt“.
Christina-Maria Bammel ist Pröpstin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.