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Pflegeversicherung wird 30 Jahre alt – Warnung vor Zusammenbruch

Gute Pflege ist teuer. Nicht jeder kann sie sich leisten. Um die Betroffenen zu entlasten und die Versorgung solidarisch zu finanzieren, wurde vor 30 Jahren die Pflegeversicherung eingeführt. Sie bleibt eine Baustelle.

Die Arbeitgeber sprachen von der “größten Torheit der letzten Jahrzehnte”. Als Bundessozialminister Norbert Blüm (CDU) in den 1990er Jahren für eine Gesetzliche Pflegeversicherung kämpfte, stieß er auf massive Widerstände. Bis zuletzt wurde über die Finanzierung gezankt. Blüm drohte mit Rücktritt. Und setzte sich durch. Vor 30 Jahren, am 22. April 1994, beschloss der Bundestag die Versicherung als fünfte Säule der Sozialversicherungen neben Renten-, Arbeitslosen-, Unfall- und Krankenversicherung.

Bis heute ist sie eine Baustelle geblieben. Ein Projekt, dessen Fundament derzeit wackeliger denn je erscheint. “Wir laufen sehenden Auges in eine Katastrophe”, warnte kürzlich der Präsident des evangelischen Sozialverbands Diakonie, Rüdiger Schuch.

Auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sieht die Notwendigkeit, die Versicherung auf neue Füße zu stellen. Vor einem Jahr setzte er eine Kommission ein, die bis Ende Mai Konzepte für eine langfristige Lösung entwickeln soll. Experten bezweifeln, ob das angesichts der unterschiedlichen Vorstellungen der Regierungsparteien zum Sozialstaat gelingen kann. Schließlich geht es um viele Milliarden Euro.

Blüm hatte vor allem darauf reagiert, dass immer mehr alte Menschen in die Sozialhilfe rutschten, weil sie Pflege und Heimunterbringung nicht bezahlen konnten. Das bedeutete eine große Belastung auch für Kommunen, deren Sozialhilfeetats stark stiegen.

Mit der SPD und gegen den Widerstand des damaligen Koalitionspartners FDP setzte Blüm durch, dass die Versicherung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern paritätisch finanziert werden sollte. FDP und Wirtschaft wollten eine privatwirtschaftliche Versicherung durchsetzen. Otto Graf Lambsdorff, wirtschaftspolitischer Sprecher der damaligen FDP-Bundestagsfraktion, erklärte: “Bis 2010 ist diese Pflegeversicherung tot.”

30 Jahre später ist klar, dass die Pflegeversicherung in der alternden Gesellschaft wichtiger denn je ist. Fast 74 Millionen Bundesbürger sind dort gesetzlich versichert. Mehr als 5,2 Millionen erhalten derzeit Leistungen. Entstanden ist ein – weiter viel zu kleines – Netz aus stationären Einrichtungen, ambulanten Diensten, Tagespflege und Hilfen für pflegende Angehörige.

Zu besichtigen ist ein ganzes Bündel von Problemen: “Wir stehen vor einem Kipppunkt: Die soziale Pflegeversicherung droht in wenigen Jahren ihre Funktionsfähigkeit zu verlieren”, warnt Andreas Storm, Vorstandschef der Krankenkasse DAK. Die Babyboomer lassen die Zahl der Pflegebedürftigen steigen – die Kassen rechnen mit 7,5 Millionen im Jahr 2050. Sie reißen durch vermehrten Renteneintritt auch weitere große Lücken in die angespannte Personaldecke der Pflegepersonen.

Die Personalnot verschärft sich, sowohl in der stationären als auch in der ambulanten Pflege. Zugleich sorgen steigende Personalkosten, Inflation und fehlende Investitionen dafür, dass Heime und ambulante Dienste schließen und die Eigenbeiträge der 800.000 im Heim versorgten Menschen stark steigen – so stark, dass wieder ein großer Anteil in die Sozialhilfe rutscht.

Eine Grundsatzdebatte über die Zukunft der Pflege hat deshalb an Fahrt aufgenommen. Gefordert werden unter anderem verlässlichere und bessere Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte – wobei die Bezahlung durch höhere Mindestlöhne und die Einführung der Tarifbindung zuletzt deutlich besser geworden ist.

Zentral ist die grundlegende Frage der Finanzierung: Höhere Beiträge zur Pflegeversicherung, mehr private Vorsorge oder ein höherer Steuerzuschuss – all das ist hoch umstritten. Genau so wie die von SPD und Grünen seit Jahren geforderte Einführung einer Bürgerversicherung, in die auch Privat-Versicherte, Beamte und Selbstständige einzahlen.

Der Pflegeforscher Thomas Klie hält auch neue Versorgungsformen für nötig. Es werde neue Wege gegenseitiger Unterstützung brauchen, um eine solidarische Pflege und Sorge vor Ort sicherzustellen. Als Beispiel nannte er ambulant betreute Wohngemeinschaften. Eine Mischung aus nachberuflicher Erwerbstätigkeit von Pflegekräften und bürgerschaftlichem Engagement könnte einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Pflegesituation leisten, sagt er.