Am 4. April 1980 traten in der evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau elf Sinti und eine Sozialarbeiterin in einen achttägigen Hungerstreik. Ihr Ziel: Die Bundesrepublik Deutschland sollte endlich anerkennen, dass auch Sinti und Roma im NS-Regime Opfer eines Völkermords geworden waren. Auch wollten die Männer erreichen, dass das Justizministerium die Akten der 1965 aufgelösten „Landfahrerzentrale“ des Bayerischen Landeskriminalamts herausgibt. Christian Schubert war damals als Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste vor Ort und begleitete die Streikenden. Beim Gedenkakt am Freitag (4. April) berichtet er – zusammen mit weiteren Akteuren – von damals.
epd: Herr Schubert, Sie hatten 1980 gerade als Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) an der Versöhnungskirche angefangen, als Sie mit den Plänen zum Hungerstreik konfrontiert wurden. Was ist damals passiert?
Schubert: Als Freiwilliger lebte ich Anfang 1980 mit meiner ASF-Kollegin Renate Hengl in einer Pfarrerswohnung in Dachau-Ost. Eines Tages klingelte das Telefon, am Apparat war Romani Rose, der mich mit „Pfarrer Schubert“ ansprach. Diesen Rollenwechsel vom Freiwilligen zum Pfarrer musste ich erst einmal verdauen. Natürlich wussten wir um die Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung der Sinti im NS-Regime. Ich hatte 1979 selbst als Freiwilliger in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau das sogenannte „Zigeunerlager“ gesehen. Doch jetzt sprach der uns unbekannte Romani Rose eine ganz andere Sache an: Ihm ging es darum, den Verbleib der Akten aus der ehemaligen „Landfahrerzentrale“ aufzuklären. Dafür wollte er in der Versöhnungskirche streiken.
epd: So ist es dann auch gekommen: Elf Sinti und eine Sozialarbeiterin traten in einen achttägigen Hungerstreik. Was war Ihre Rolle als 26-jähriger Freiwilliger dabei?
Schubert: Wir waren eher organisatorische Begleiter des Protests. In unserer Funktion hatten wir nichts zu entscheiden oder zu vermitteln. Von heute aus betrachtet ging es eher darum, den Zugang zur Versöhnungskirche offenzuhalten, fragende Besucher und Sinti zusammenzubringen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob wir einen Kompass, ein grobes Handlungskonzept vom evangelischen Dekanat München für diese außergewöhnliche Situation bekommen hatten.
epd: Wer war denn außer Ihnen damals an der Versöhnungskirche tätig?
Schubert: Es gab damals keinen Pfarrer oder anderen Hauptamtliche an der Kirche, somit fand der Hungerstreik in einer Art personeller und organisatorischer Leere statt. Ich glaube, er konnte auch deshalb so hohe Wellen schlagen, weil die Zuständigkeit der Kirche nicht sichtbar war. Was nach illegitimer Besetzung roch, war aber ein Lebendig machen des Auftrags der Kirche. Die Leere des Gesprächsraumes füllte sich mit einer überfälligen Forderung: Das Unrecht an den Sinti zu beseitigen.
epd: An welche Atmosphäre erinnern Sie sich dabei?
Schubert: Meine Erinnerungen sind, auch wenn mich das beschämt, nach 45 Jahren verblasst. Beim Erinnern hilft es mir, die Fotos des Hungerstreiks zu beschreiben. Auf einer Aufnahme sieht man zum Beispiel Franco Brantner und Franz Wirbel im Vordergrund des Fotos, eingehüllt in ihren Decken auf den mitgebrachten Sonnenliegen, feuchte Tücher auf ihren Stirnen. Jacob Bamberger neben Romani Rose links, Anton Franz, Dronja Peter und Hans Braun liegen im Hintergrund. Weder Tumult noch Aufstand verbreiteten sich im Kirchenraum, es war eine Atmosphäre der Ruhe und des geduldigen Wartens auf eine Antwort aus dem bayerischen Innenministerium.
epd: Haben Sie mitgefiebert?
Schubert: Ja, auch bei uns stieg die Aufregung. Wer würde kommen, um zu zeigen: Wir nehmen Euer Anliegen ernst. Tatsächlich kam dann der damalige, 2020 verstorbene Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel (SPD). Das Foto von ihm und Romani Rose strahlt aus, woran ich mich zu erinnern meine: ein Ausdruck gegenseitigen Verständnisses und Respekts. Für Hans-Jochen Vogel war die Begegnung, wie er sagte, „ein wichtiger Anstoß“ zum Abbau von Vorurteilen. Für die Sinti war es ein Schritt auf dem Weg zu mehr gesellschaftlicher Anerkennung: 1982 wurde die Ermordung von rund 500.000 Sinti und Roma durch die Nazis als Völkermord anerkannt; 1997 wurde die erste Dauerausstellung im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg eröffnet.
epd: Wenn Sie an damals denken: Was bleibt Ihnen bis heute wichtig?
Schubert: Für mich ist es nach 45 Jahren ein anhaltender Auftrag: Nicht vergessen, was verblasst war, sondern es wieder sichtbar, hörbar, lesbar machen. Wir müssen völkischem, rassistischem, ausschließendem, vernichtendem Denken und Handeln entgegentreten. Und differenzieren, wenn das Stigmatisieren, Typisieren und Vereinfachen die Oberhand gewinnen. (1108/02.04.2025)