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Nächstenliebe ist eine Zumutung

Wie christliche Ethik unsere natürlichen Regungen und Instinkte infrage stellt. Ein Leitartikel von Gerd-Matthias Hoeffchen.

Die Nächstenliebe ist nicht wörtlich zu nehmen. Sie umfasst nämlich alle Menschen, die Hilfe brauchen
Die Nächstenliebe ist nicht wörtlich zu nehmen. Sie umfasst nämlich alle Menschen, die Hilfe brauchenImago / Imagebroker

Ein Paar sitzt am Küchentisch. Auf dem Tisch liegen Rechnungen – die nächste Rate fürs Auto, die Kosten für die Ausbildung der Kinder, der geplante Sommerurlaub, der dann vielleicht doch gestrichen werden muss oder zumindest deutlich kleiner ausfällt. Und immer schwingt die Sorge mit, ob der eigene Arbeitsplatz in kriselnden Zeiten sicher bleibt. Dann ist da noch der Schwager, der fragt, ob man ihm finanziell aushelfen könne. Und als wäre das nicht genug, predigt der Pfarrer, dass es christliche Pflicht sei, auch den geflüchteten Menschen in der Nachbarschaft zu helfen.

Diese Szene ist erfunden. Aber sie steht sinnbildlich für die Frage, wie weit die Verantwortung für andere reicht – und ob es so etwas wie eine Stufenfolge der Nächstenliebe gibt. Gerade jetzt taucht diese Frage wieder auf, auch als Anfrage an die christliche Theologie.

Vizepräsident Vance interpretiert Nächstenliebe nicht als allumfassend

So fordert etwa der US-amerikanische Vizepräsident James David Vance, ein überzeugter Katholik, man dürfe Nächstenliebe nicht mehr so allumfassend verstehen wie bisher. Man müsse den Begriff wörtlich nehmen: als Liebe zu den NÄCHSTEN; also zu denen, die einem nahestehen. Für ihn bedeutet das: zuerst Familie, die eigenen Leute, dann die Nachbarn, am Ende – vielleicht – die Fremden. Praktische Konsequenz für aktuelle Politik in den USA: Grenzen dichtmachen, aus Liebe zu den Eigenen.

Liebe und Zuwendung in sinnvoller Reihenfolge

Vance beruft sich dabei auf die christliche Lehre der „Ordnung der Liebe“ („Ordo Amoris“). Die geht auf die Kirchenlehrer Augustinus (354–430 n.Chr.) und Thomas von Aquin (1225–1274) zurück: Liebe und Zuwendung sollen in einer sinnvollen Rangfolge stehen – an erster Stelle steht Gott, dann folgen wir selbst und unsere Mitmenschen: Familie, Verwandtschaft, Freunde, Nachbarn. Dann erst der Rest der Welt. Ziel des Ordo Amoris ist es, Zuneigungen und Prioritäten so zu ordnen, dass nicht Unordnung, Übersteigerung oder gar Chaos und Überforderung die Folgen sind.

Auf den ersten Blick klingt das einleuchtend. Wer würde nicht instinktiv zuerst für die eigene Familie sorgen? Wer hätte nicht Verständnis dafür, dass ein Staat seine Bürgerinnen und Bürger schützt, bevor er Fremde aufnimmt? Dieses Denken ist zutiefst menschlich – und vermutlich sogar in unserer Natur angelegt.

Widerspruch zur Nächstenliebe des Evangeliums

Aber: Vance widerspricht damit so ziemlich allen bedeutenden christlichen Theologinnen und Theologen. Denn die Haltung, die Vance vertritt, steht im krassen Widerspruch zu der Nächstenliebe, die Jesus im Evangelium lehrt und vorlebt. Für Jesus sind die „Nächsten“ nicht nur Verwandte, Freunde oder Landsleute, sondern alle Menschen, die Hilfe brauchen – unabhängig von Herkunft, Religion oder Beziehung zu uns. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter macht Jesus deutlich: Nächster ist der, dem man in dessen Not begegnet und dem man helfen kann – jeder Bedürftige wird so zum Nächsten. Heißt: Christliche Ethik fordert mehr, als bloß den eigenen Instinkten zu folgen.

Ordo Amoris: Mahnung, Liebe zu ordnen, nicht aber zu begrenzen

Der Ordo Amoris, wie ihn Augustinus und Thomas von Aquin beschrieben, ist keine Ausrede für Gleichgültigkeit oder Abschottung. Er ist eine Mahnung, die Liebe zu ordnen; und nicht, sie zu begrenzen. Ja, es stimmt: Niemand kann allen Menschen gleichzeitig helfen. Aber das Gleichnis vom barmherzigen Samariter sprengt die engen Kreise der Zugehörigkeit. Der Samariter hilft dem Überfallenen nicht, weil er Verwandter oder Nachbar wäre, sondern weil er erkennt: Hier ist ein Mensch in Not. Die Liebe fragt nicht nach dem Pass.

Nächstenliebe ist Anfrage an unser Herz

Wer den Ordo Amoris benutzt, um politische Härte zu rechtfertigen, verwechselt Ordnung mit Ausschluss. Die christliche Nächstenliebe ist keine konzentrische Festung, in der die Mauern immer höher werden, je weiter jemand entfernt ist. Sie ist eine Zumutung an unsere Instinkte, eine Anfrage an unser Herz. Sie verlangt, dass Menschen ihre natürlichen Grenzen hinterfragen. Wir leben in einer gefallenen Welt, in der das Natürliche nicht immer das Gute ist.

Vielleicht werden wir dieses Ideal nie ganz erreichen. Aber es bleibt Auftrag. Christliche Nächstenliebe ist kein gemütliches Gefühl – sie ist der Mut, sich stören zu lassen. Von der Not des Anderen. Von der Zumutung Gottes.