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Nachkriegsmoderne rund um den “Nischel”

Karl-Marx-Stadt ist Geschichte. Die DDR-Musterstadt gab es nur einige Jahrzehnte, von 1953 bis 1990. Längst heißt sie wieder so wie ihr Fluss: Chemnitz. Doch in der DDR war sie ein Spiegelbild der sozialistischen Ideologie. Eine Ausstellung im Chemnitzer Schlossbergmuseum der Kunstsammlungen spürt nun diesem jüngeren Kapitel der Stadtgeschichte nach. Unter dem Titel „Die neue Stadt“ gibt sie von Sonntag an Einblick in eine architektonisch prägende Epoche.

Zahlreiche Fotografien, aber auch Pläne, Dokumente, Architekturmodelle und Alltagsgegenstände veranschaulichen die Wiederaufbauzeit im Zeichen der internationalen Nachkriegsmoderne. Originale Leuchtreklamen sollen ein Gefühl der damaligen Modernität vermitteln. Der Kurator der Chemnitzer Kunstsammlungen Peer Ehmke, sagt: „Die Transformation nach dem Zweiten Weltkrieg war etwas völlig Neues, das das Bild der Stadt bis heute prägt.“

Innerhalb kurzer Zeit seien städtebauliche Strukturen komplett neu entstanden. In der Bevölkerung habe es eine große Bereitschaft gegeben, Neues aufzunehmen. Dieses Lebensgefühl habe es auch in anderen Ländern gegeben, sagt Ehmke. Im Osten sei der Aufbau jedoch stets von einer Politisierung begleitet worden.

Die Umbenennung von Chemnitz in Karl-Marx-Stadt im Jahr 1953 reflektierte das Bestreben der DDR, sich ideologisch von der Vergangenheit abzuwenden und eine neue, sozialistische Identität zu schaffen. Die Stadt mit dem Namen des Philosophen und kommunistischen Vordenkers Karl Marx (1818-1883) sollte modern und zugleich funktional werden.

DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl (1894-1964) war überzeugt, dass die Menschen nun „vorwärts schauen, auf eine neue und bessere Zukunft“. Von DDR-Machthaber Walter Ulbricht ist indes zur „neuen Stadt“ überliefert: „Machen Sie das Zentrum hell und licht.“

Der Wiederaufbau in Karl-Marx-Stadt begann laut Ehmke aber erst 1960. „Zuvor war jahrelang nichts passiert“, sagt der Kurator. Nach den schweren Zerstörungen am Ende des Zweiten Weltkrieges und der Trümmerbeseitigung habe es ein leer geräumtes Stadtzentrum gegeben. Ehmke vermutet, dass Industriebauten zunächst Vorrang hatten.

Später, von 1974 an, war dann der Wohnungsbau Hauptaufgabe. Weiße Neubaublöcke seien auf der grünen Wiese aus dem Nichts gewachsen, eine „Stadt vor der Stadt“, sagt Ehmke. Es entstanden gigantische Plattenbausiedlungen für zehntausende Menschen wie etwa das Fritz-Heckert-Gebiet. Oft seien sie futuristisch konzipiert worden, dann aber aus Kostengründen schlicht und pragmatisch gebaut worden.

Laut dem Leiter des Schloßbergmuseums, Stefan Thiele, bleibt Karl-Marx-Stadt ein wichtiger Bestandteil des kulturellen Erbes. Die neue Ausstellung präsentiert eine Welt der Plattenbauten, Hochstraßen und Kunststoffe. Fotos zeigen, wie Häuser mit monumentalen und imposanten Fassaden gestaltet wurden.

Ein Höhepunkt des Wiederaufbaus seien die Gebäude rund um das überregional bekannte Karl-Marx-Monument des sowjetischen Bildhauers Lew Kerbel (1917-2003). Die Riesenbüste aus dem Jahr 1971 steht heute an der Brückenstraße, die in der DDR Karl-Marx-Alle hieß und laut Ehmke als breite Verkehrsachse und großzügige Demonstrationsstrecke konzipiert war.

Das sieben Meter hohe und mehr als 40 Tonnen schwere Denkmal, das von Einheimischen „Nischel“ (umgangssprachlich für Kopf) genannt wird, ist heute wohl das bekannteste Wahrzeichen von Chemnitz, das 2025 europäische Kulturhauptstadt ist. Im Gebäudekomplex dahinter befand sich der ehemalige Sitz des Rates des Bezirkes und später der SED-Bezirksleitung.

Gegenüber befindet sich ein – inzwischen denkmalgeschütztes – Ensemble mit Stadt- und Kongresshalle sowie einem 93 Meter hohen Hotel. Die Bettenburg mit 28 Etagen ließ in der Nachkriegszeit die alten Türme der Stadt hinter sich, den der Petrikirche ebenso wie den mittelalterlichen Roten Turm.

Die Ausstellung zeige auch den internationalen Kontext des Wiederaufbaus, sagt Ehmke. Ein neues Lebensgefühl und Erwartungen habe es überall nach dem Krieg gegeben, nicht nur in der DDR. Ein Bezug wird zudem zwischen der Bauhausarchitektur und der Plattenbauweise hergestellt.