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Mit Kirchen-Kraft für einen vollen Europa-Platz

Die große Idee ist mehr als nur ein Versprechen. Kirchen wollen das einmalige, aber noch schwache Projekt mitgestalten: auf europäischer Ebene mit der Konferenz Europäischer Kirchen als Sprachrohr. Aber auch auf lokaler und regionaler Ebene

Die Idee vom gemeinsamen Europa ist in Gefahr. In Ungarn wird die Demokratie seit Jahren nach und nach ausgehöhlt. Bei der letzten Parlamentswahl Anfang April demons­trierten Zehntausende gegen den Abbau von Rechtsstaat und Demokratie unter der rechtsnationalen Regierung der Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán. Auch in Polen werden Verfassung, Justiz und Medien umgebaut. Die Regierung dort ist zunehmend bestrebt, dass Richter und Medien nicht unabhängig  arbeiten können. Ihr künftiger Weg heißt Autokratie. Nationalismus und Populismus haben dabei in vielen europäischen Ländern  Hochkonjunktur.
Auch die Wirtschaft setzt bedenkliche Prioritäten. Billiges Agrarland in Ungarn, Rumänien und in der Ukraine wird aufgekauft gegen die Interessen der Kleinbauern, die damit ihre einzige Einkommensquelle verlieren. Lohnunterschiede werden zudem schamlos ausgenutzt: Rumänische Arbeiter arbeiten in den Fleischfabriken in Ostwestfalen zu Niedriglöhnen, die deutsche Arbeiter nicht akzeptieren können. Elektronikkonzerne wie Nokia kassieren zehn Jahre lang EU-Subventionen ab und schließen danach ihre Fabrik in Westdeutschland, um am osteuropäischen Standort zu günstigeren Konditionen erneut subventionierte Mobiltelefone herzustellen.
Es gibt also erheblichen Regulierungsbedarf in der Europäischen Union (EU). Nicht weniger Europa, sondern mehr Europa ist gefragt. Die Menschen spüren: Das europäi­sche Projekt ist fragil und gefährdet. Deshalb gehen sie auf die Straße. „Pulse of Europe“ ist eine bekannte Bürgerbewegung, die trotz aller Unterschiede für ein gemeinsames, ein offenes und demokratisches Europa eintritt.
Und welche Rolle kommt den Kirchen in Europa zu? Im sogenannten Kalten Krieg stand die Welt mehrfach vor dem politischen Abgrund und war von einem atomaren Weltkrieg bedroht. 1959 war die Geburtsstunde der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), die in knapp 60 Jahren zum Sprachrohr aller protestantischen und orthodoxen Kirchen in Europa geworden ist.
Die KEK mit Sitz in Brüssel wurde auf einem kleinen Schiff mitten in der dänischen Ostsee gegründet. Die See war ruhig damals, aber es herrschten stürmische Zeiten, insbesondere zwischen den Ländern des Ostblocks und den Ländern Westeuropas. Die Kirchen setzten dennoch ein Zeichen und machten deutlich, auch über Grenzen hinweg wollen wir als protestantische, orthodoxe, anglikanische und reformierte Kirchen zusammenarbeiten in einem Europa.  Nach dem Zweiten Weltkrieg sehnten sie sich nach Frieden und Versöhnung.
Europa ein Versprechen geben – das war auch die Kernidee des Bochumer „Platz des europäischen Versprechens“. 14 726 Unterschriften von Bürgerinnen und Bürgern eingraviert auf neun Steinplatten direkt vor der Bochumer Christuskirche im Stadtzentrum der Ruhrgebietsmetropole. Ein Projekt des Kirchenkreises Bochum, das 13 Jahre  bis zu seiner Realisierung brauchte.  Doch genau diese vielen Versprechen sind heute bedroht.
Was aber macht Europa aus? Kulturelle Vielfalt, ein funktionierendes Rechtssystem, Frieden und Sicherheit sowie das Versprechen auf eine bessere Zukunft: auf eine offene, demokratische Gesellschaft, die Minderheiten schützt, die freie Religionsausübung ermöglicht und Menschen aufnimmt, die vor Krieg, Armut und Gewalt fliehen. So ist es in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union festgeschrieben.
Eigentlich sollte diese Charta 511 Millionen Mal gedruckt werden in 24 Sprachen, damit jeder Mensch in der EU sie bei sich tragen kann. Schließlich ist die EU ein Gebilde von 28 Nationalstaaten, die einen Teil ihrer Souveränität abgeben, um im Verbund mehr Gerechtigkeit und Sicherheit im globalen, politischen Wettbewerb zu erreichen. All dies wurde 2007 durch den Vertrag von Lissabon zwischen den Mitgliedsstaaten rechtsverbindlich so verabredet.
Das politische Projekt Europas ist einmalig, aber noch schwach. Es gibt keine gemeinsame Sprache, viele verschiedene Kulturen und keine gemeinsame Währung. Das Verständnis eines sozialen, demokratischen Grundrechtestaates ist nicht in allen Mitgliedsländern fest verankert. Der „Aquise Commune“, das europäische Gemeinschaftsrecht soll alle Mitglieder einbinden.  Neumitglieder werden vor ihrem Beitritt zu Rechtstaatlichkeit, unabhängiger Justiz, Polizei und Medien, auf das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft und auf eine parlamentarische Demokratie verpflichtet.
Die Frage nach Frieden und Verständigung wird sich die KEK im Juni im serbischen Novi Sad erneut stellen. Die aktuellen Herausforderungen lauten, Versöhnung auf dem Balkan zu fördern und den Krieg in der Ukraine zu beenden. Die Vollversammlung steht unter dem Motto „Ihr werdet meine Zeugen sein“ (Apostelgeschichte 1,8). Die 138 Mitgliedskirchen werden sich mit Fragen der Gerechtigkeit, Gastfreundschaft und des christlichen Glaubens befassen. Dabei wird es auch um ein besseres, ein gerechteres Europa gehen.

Thomas Krieger ist Europareferent im Amt für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung (MÖWe) der Evangelischen Kirche von Westfalen in Dortmund.