Eine radikale Reform des Gesundheitssystems fordern mehrere Medizinethiker und Philosophen. Die Krankenversorgung müsse in erster Linie den Patienten dienen. “Anderenfalls verfehlt sie ihren im Kern moralischen Auftrag”, schreiben Michael de Ridder, Bettina Schöne-Seifert, Marco Stier und Steffen Stürzebecher am Mittwoch in einem Beitrag für die “Süddeutsche Zeitung”. “Bei den derzeitigen Lobbygefechten stehen jedoch ökonomische und organisatorische Fragen im Vordergrund.”
“In unseren Krankenhäusern mangelt es auf allen Ebenen an Patientendienlichkeit”, betonen die Autoren. Sie verweisen unter anderem auf überlange Wartezeiten, übereilte Abfertigungen in überfüllten Ambulanzen, fehlende Ansprechpartner, unklare Behandlungspfade und unnötig hierarchische Arbeitsstrukturen.
Auch Ärzte und Pflegekräfte leiden nach Auffassung der Medizinethiker zunehmend unter dem Gefühl, dass sie in dem bestehenden Versorgungssystem ihren professionellen moralischen Maßstäben nicht genügen könnten. “Hinzu kommen oft katastrophale zeitliche, organisatorische und finanzielle Arbeitsbedingungen, die auch als Ausdruck mangelnder Wertschätzung empfunden werden.”
Als Beispiele für Fehlsteuerungen nennen die Autoren etwa das 2003 eingeführte Fallpauschalen-Vergütungssystem. Es sorge zwar dafür, unnötige Behandlungen und Liegezeiten zu vermeiden. Zugleich aber richteten die Kliniken Diagnosen und Behandlungen nicht nur am medizinischen Bedarf aus, sondern auch am Ertragspotenzial der Pauschalen. Das zeige sich etwa am dramatischen Mangel an Kinderintensiv-Betten und -Personal.
Ebenso kritisieren die Medizinethiker, dass ohne medizinische Gründe einträgliche Operationen oft weniger lukrativen Behandlungsformen vorgezogen würden. Wider besseres ärztliches Wissen würden im deutschen Gesundheitssystem zig Millionen entbehrlicher Routine-Laboruntersuchungen und Abertausende von Herzkatheter-Untersuchungen, von Bandscheibenoperationen oder von nicht-indizierten Intensivbehandlungen am Lebensende durchgeführt, kritisieren die Experten weiter. “Lobbyinteressen und Gewinnstrategien wie etwa bei der Privatisierung von Krankenhäusern, bei der Vermarktung von medizinischem Großgerät oder bei patentierten Arzneimitteln dürfen nicht länger das Geschehen bestimmen.”
Auch werde die sprechende Medizin immer weiter zurückgefahren, schreiben die Medizinethiker. Im gehetzten Betrieb moderner Krankenhäuser werde gerade jungen Ärzten “buchstäblich abtrainiert”, sich den Patienten gegenüber empathisch zu verhalten. Empathie aber – also die Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen – sei das Fundament der Menschlichkeit und die Basis informierter Entscheidungsfindung.
Bettina Schöne-Seifert ist Medizinethikerin, Marco Stier ist Philosoph, beide an der Universität Münster. Michael de Ridder ist Internist, Steffen Stürzebecher Pharmakologe in Berlin.