Sehenswerter Animationsfilm um eine Privatdetektivin, die im Jahr 2200 auf der Suche nach einer verschwundenen Studentin einem Komplott auf die Spur kommt.
Ein Mann versucht, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, aber er findet keinen Widerstand an seinen Wangen. Er greift in seinen Kopf hinein, der sich als holografische Projektion erweist; seine Finger verwischen das Bild und legen die Leere frei. Eine Diskrepanz zwischen Maschinen-Körper und Menschen-Geist, zwischen Hardware und Software.
Der Animationsfilm “Mars Express” von Jeremie Perin zeigt eine Version der Zukunft, die man scheinbar so gut kennt, als wäre sie längst unsere Vergangenheit. Ihre Schrecken und Verheißungen konnten in der Fiktion schon so oft abgewogen werden, dass sie als tatsächliches Szenario geradezu unwahrscheinlich erscheinen.
Der Film präsentiert sich als ungeheure Referenzsammlung. Aber genau wie bei dem Roboter-Polizisten, der seine mechanische Hand hilflos nach digitalen Tränen ausstreckt, entstehen auch beim Verlöten und Neuprogrammieren vertrauter Thesen, Bilder und Dramaturgien interessante Kurzschlüsse. Die Schönheit einer flackernden Oberfläche, die sich dem Zugriff entzieht.
Die Handlungsmaschine setzt sich aus Ersatzteilen von “Blade Runner” und anderen Geschichten von Philip K. Dick oder Isaac Asimov zusammen. Im angehenden 23. Jahrhundert ist die Erde Makulatur, und das Herz der Menschheit schlägt auf dem Mars. Die alkoholsüchtige Privatdetektivin Aline Ruby soll eine verschwundene Kybernetik-Studentin suchen. Die ist wohl auf einen Code gestoßen, der es Androiden erlauben würde, sich über die Regeln der Menschen hinwegzusetzen. Natürlich offenbart sich den Detektiven bald eine Verschwörung, die das Zusammenleben von Menschen und Robotern für immer verändern wird.
Interessanter als der Plot ist der Stil, denn visuell orientiert sich das Science-Fiction-Abenteuer unmittelbar an franko-belgischen Comics. Eine unverbrauchte und trotzdem nostalgische Ästhetik, die dem retrofuturistischen Grundgedanken des Films entspricht. “Mars Express” ist außerdem ein Film über eigentümliche Verlusterfahrungen, über Mängelwesen und Mängelwelten.
Einer der originelleren Aspekte des Szenarios ist seine Post-Posthumane-Dimension. Neueste Forschungsergebnisse verdrängen Computer wieder aus bestimmten Feldern; die sogenannten “Organics” sind leistungsfähiger als jede herkömmliche Maschine. Die Gewebeklumpen schwimmen in Tanks und potenzieren die Leistungsfähigkeit von Silizium. Sie können telepathisch mit Menschen und Robotern kommunizieren. Im Gegensatz zu herkömmlichen Computern besitzen die Organics einen starken Eigengeruch. Das verdrängte Zuviel der Körper kehrt zurück. Die Roboter, die sonst Menschen redundant machen, werden selbst langsam obsolet. Späte Szenen zeigen sogar eine Art Exodus und verleihen der Geschichte einen biblischen Anklang.
Auf die Vormacht der Maschinen folgt irgendwann die Vormacht des Organischen, eine wissenschaftlich-rationale Bildwelt wird zuletzt in eine religiös-emotionale überführt. Und der nostalgische Stil von “Mars Express” ist selbst Teil einer Reaktion im Animationsbereich. Die letzten Jahre waren dort stark von Hybrid- und Mischformen geprägt, die auf die Hegemonie moderner 3D-Technologie reagierten.
Eine große Stärke des Films ist seine Weitläufigkeit. In manchen Szenen schaut man auf die Bilder wie in einen Bienenstock oder einen Termitenhügel. Reizvoll ist auch die Nonchalance, mit der neue Konzepte und Technologien eingeführt werden, in der Regel ohne umständliche Erklärung. Animationskino vermag in seiner Künstlichkeit bemerkenswerte Fremdheitserfahrungen zu generieren.
Die programmierten Tränen können nicht fortgewischt werden. Und auch vermeintlich überholte Kulturtechniken können sich neu entfalten, wenn sich denn Künstler finden, die sie wieder zum Leben erwecken. “Mars Express” beginnt als Schlachtfeld der Zitate, doch irgendwann ruhen die Waffen. Selbst die Hauptfiguren entpuppen sich lediglich als Zeugen großer Umbrüche. Die heute so omnipräsente Idee der Apokalypse wird mit ihrer Wortherkunft als “Offenbarung” oder “Enthüllung” versöhnt. Chaos weicht Kontemplation und einem verlorenen Blick zu den Sternen.