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Liebig: Anzahl der Kirchenmitglieder nicht entscheidend

Nach rund 15 Jahren im Amt bleibt der scheidende Kirchenpräsident der Evangelischen Landeskirche Anhalts, Joachim Liebig, mit Blick auf die Zukunft trotz sinkender Mitgliederzahlen optimistisch. Liebig geht am 1. März in den Ruhestand. Er trug maßgeblich zur Einführung eines Verbundsystems bei, dass die Gemeinden weiterhin personell ausreichend ausgestattet sind. Deshalb sieht er auch für die kleinste deutsche Landeskirche weiterhin eine Zukunft.

epd: Herr Kirchenpräsident, bislang sind die Versuche gescheitert, eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger für Sie zu wählen. Wären Sie in dieser Situation gerne noch länger im Amt geblieben?

Joachim Liebig: Nein. Ich hatte schon vor einem Jahr angekündigt, dass ich zu meinem 66. Geburtstag in den Ruhestand gehen werde, wie es dem Pfarrdienstrecht entspricht. Als ich zum letzten Mal gewählt wurde, habe ich gesagt: Es gibt eine Einschränkung, und das ist meine Gesundheit. Ich bin nicht wirklich krank, aber ich merke doch deutlich, dass ich in die Jahre gekommen bin. Mit 66 ist man nicht mehr so fit wie mit 40, auch wenn Udo Jürgens das seinerzeit anders gesehen hat. Und ich glaube, dass alles, was ich zu unserer schönen Landeskirche beitragen konnte, in den vergangenen Jahren auch passiert ist. Zudem ist die Landeskirche nicht führungslos, die verfassungsmäßigen Gremien arbeiten.

epd: Die Neuwahl eines Kirchenpräsidenten ist im September gescheitert, vor kurzem wurde sie nochmals verschoben. Ist diese Situation für die anhaltische Kirche existenzgefährdend?

Liebig: Im Moment noch nicht. Funktionalität ist ein zentrales Stichwort. Ich habe immer gesagt, unsere Landeskirche hat dann eine Zukunft, wenn die Aufgaben, die in den Gemeinden zu lösen sind, auch gelöst werden können. Im Moment ist der Landeskirchenrat durch mein Ausscheiden nur mit zwei Personen und damit nicht vollständig besetzt. Das war er mehrfach nicht, auch in meiner Dienstzeit. Das ist misslich, aber derzeit sehe ich noch keine existenzielle Bedrohung. Allerdings: Sollte diese Dysfunktionalität zu lange andauern, dann würden sich Grundsatzfragen stellen.

epd: Die Landeskirche hat noch knapp 26.000 Mitglieder, Tendenz vermutlich weiter sinkend. Ab 2025 kündigt sich laut einem Gutachten ein Haushaltsdefizit an, auch der Finanzausgleich der EKD steht infrage. Stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob diese Landeskirche in ihrer jetzigen Form weiter bestehen kann?

Liebig: Natürlich, und wir überlegen ja auch. Die Fragen sind nicht neu. Ob es zu dem prognostizierten Defizit kommt, wollen wir zunächst mal abwarten. Ich habe in 40 Dienstjahren viele Erfahrungen mit solchen Gutachten gemacht. Schon jetzt hat sich die Situation verändert, sodass ich davon ausgehe, dieses Defizit wird – wenn es denn eintritt – erträglich bleiben. Was die Zahl der Gemeindeglieder angeht: Wir hatten gerade Gemeindekirchenratswahlen, und es wird immer schwerer, Menschen für diese zentrale Aufgabe zu gewinnen. Es wird zunehmend so sein, dass sich die Verantwortlichkeit auf Gemeindeverbünde verschiebt, ohne dass die Gemeinden ihre Selbstständigkeit aufgeben. Wie es mit dem Finanzausgleich der EKD weitergeht, ist eine alte Frage. Deutlich ist: Der Dachverband der evangelischen Kirchen in Deutschland setzt uns – sicherlich angetrieben durch einzelne Geberkirchen – unter Druck und stellt unsere Existenz infrage.

epd: Wenn man auf den Mitgliederschwund der Kirchen und ihren Bedeutungsverlust in der Gesellschaft schaut, wäre es dann nicht das Gebot der Stunde zu sagen, wir bilden eine große mitteldeutsche Kirche oder eine Ostkirche?

Liebig: Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Größe zentral für die Relevanz ist. Ich habe andere Erfahrungen gemacht. Die Größe einer Kirche hat nur bedingt etwas mit ihrer Relevanz zu tun. Es ist ein Irrtum deutscher Kirchen, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs begann, zu glauben, dass Kirche gesellschaftspolitisch bedeutsam sei, weil sie eine große Zahl von Mitgliedern habe. Mir ist nicht im Geringsten aufgefallen, dass wir hier im Osten oder in Mitteldeutschland eine mindere Relevanz haben, weil wir eine Minderheitskirche sind. Das, was Kirche ist, steht im Neuen Testament: Wir sind immer Sauerteig, sind immer Salz der Erde, nie eine Mehrheit.

epd: Ist das anhaltische Verbundsystem Ihr größter Erfolg?

Liebig: Ich würde es nicht als meinen Erfolg bezeichnen. Das war von Anfang an eine kollektive Veränderung. Wir haben mit den Gremien, vor allem mit den Kreisoberpfarrerinnen und -pfarrern, daran gearbeitet. Was ich mir als einen Erfolg zurechnen würde, ist, dass wir vielleicht die erste Kirche waren, die das umgesetzt hat. Das spricht für die Agilität einer kleinen Kirche. Wenn ich zu den Kolleginnen und Kollegen im Westen blicke, dann sind die auch auf diesem Weg, aber viel verzögerter. Denn der Grundgedanke ist ja häufig, wenn es Veränderungen gibt, dürfen sie höchstens moderat sein. Das ist bei uns anders. Die Landeskirche Anhalts von 2024 ist eine andere, als sie 2010 war.

epd: Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung und jetzt die ForuM-Studie zum sexuellen Missbrauch brachten Hiobsbotschaften für die Kirche. Geht die Ära des Christentums in Europa zu Ende?

Liebig: Nein, das glaube ich nicht. Glaube an sich – geprägt durch die Aufklärung – hat es schwer in einer Zeit der Individualisierung und Säkularisierung. Es geht eher um eine Reduktion der Kirche auf die Menschen, die tatsächlich glaubende Christen sind. Dieser Kernbereich von Christenmenschen wird Bestand haben. Deutlich bedrohlicher ist die Missbrauchsstudie. Das berührt Kirche und ihre Botschaft im Kern. Hier geht es um Vertrauen und um das, was Mitmenschlichkeit ganz grundsätzlich bedeutet. Es ist unerträglich und ekelhaft, wie kirchliche Mitarbeiter zuweilen auch ihre Position missbraucht haben, um Kinder zu missbrauchen. Die Täter müssen mit aller Härte bestraft werden und haben bei nachgewiesenen Vergehen keinen Platz mehr in der Kirche.

epd: Wir leben in herausfordernden Zeiten: Es gibt große Unzufriedenheit mit der Bundesregierung, politisch extreme Kräfte erstarken. Das ist doch eigentlich eine Zeit, in der Kirche der Gesellschaft viel zu sagen hätte…

Liebig: Das sehe ich auch so, und das ist nochmals eine Frage der Relevanz. Wir wirken nicht dadurch, dass wir in großer Zahl Demonstranten auf die Straße bringen. Wir haben auch keine Trecker zur Verfügung, sondern wir müssen durch unseren Dienst in der Gesellschaft versuchen, diese zusammenzuhalten. Wir sind eine Art Kitt der Gesellschaft. Das war in früheren Zeiten nicht immer so. Die Kirchen bieten Räume für Gespräche an und haben Kontakt zu allen gesellschaftlichen Gruppen, auch zu den Rändern – obwohl das schwierig ist. Diese Rolle wird künftig noch viel mehr auf uns zukommen, eine ausgleichende und verbindende Aufgabe zu übernehmen.

epd: Wie geht es weiter mit Ihnen? Was planen Sie?

Liebig: Zunächst einmal bin ich Privatmann. Was ich auf gar keinen Fall tun werde: Ich werde nicht gewissermaßen aus dem hinteren Bereich des Theaters etwas auf die Bühne rufen – und ich werde auch nicht den Verein „Mit uns wär‘ das nicht passiert e.V.“ gründen. Meine Töchter haben von mir eingefordert, dass ich die Abendgeschichten zu Papier bringe, die ich mir für sie ausgedacht habe, als sie Kinder waren. Es gibt einzelne Figuren, die ich damals erfunden habe, und ich habe nahezu jeden Abend daraus eine Geschichte gemacht. Das werde ich jetzt als Erstes machen, um zu schauen, ob ich Lust dazu habe, weiter am Schreibtisch zu sitzen. Wenn das der Fall ist, könnte ich mir vorstellen, dass ich auch andere Dinge zu Papier bringe – aber eher im Raum der Prosa.