Vor anderen einen Text laut vorlesen – für manche Kinder ist das ein Graus. Denn Mitschüler können fies sein, sich über Lesefehler lustig machen, andere bloßstellen. Vorlesehunde sollen Leseanfängern die Scheu nehmen.
Lotti hat viele Bücher, die sie gerne vorgelesen bekommt – etwa “Die Welt der Hunde verstehen”, “Schlaf, Stella, schlaf” oder auch “Wo ist Momo?”. Mit ihrer Nase stupst sie das Buch an, das sie gerade hören möchte. Die zehnjährige Hündin begleitet Sophie Gotthardt in Mainzer Grundschulen, um Kindern die Angst vor dem Vorlesen zu nehmen und ihre Lesefähigkeit zu fördern.
Gotthardt ist gelernte Erzieherin und Fachkraft für tiergestützte Intervention – und besucht seit acht Jahren mit ihrem Vierbeiner Schulklassen, in denen Kinder Probleme mit dem Lesen haben. Darunter seien auch “Kinder mit Fluchterfahrungen, die der deutschen Sprache noch nicht so mächtig sind”. Ihnen und anderen jungen Menschen mit ähnlichen Problemen möchte die Kindheitspädagogin “die Angst vor dem Buch nehmen” und sie mit ihrer Hündin zum Lesen motivieren.
“Manche Kinder stottern, stolpern über Wörter und entwickeln deshalb eine Angst vor dem Vorlesen”, weiß die 30-Jährige. Aus Angst, ausgelacht zu werden, läsen sie wiederum weniger vor – “das ist ein Teufelskreis”, erklärt die Pädagogin. Anders bei dem Vierbeiner, der einen ruhig und freundlich anschaue. “Der Hund kann sie beim Vorlesen nicht berichtigen oder ihnen ins Wort fallen; der Hund hört gerne zu”, erklärt Gotthardt die Wirkung ihres zum Schul- und Lesehund ausgebildeten Cavalier King Charles Spaniels. Die Kinder seien dann beim Vorlesen entspannter und weniger gestresst.
Ein Effekt, den inzwischen auch zahlreiche Studien belegt haben. Im Vergleich zu herkömmlichen Förderprogrammen ist demnach durch die Anwesenheit eines Lesehundes ein deutlicher Mehrwert zu beobachten. Zu diesem Schluss kommt eine von der Psychologin Andrea Beetz begleitete Untersuchung. Sie ist eine international gefragten Expertin im Bereich der tiergestützten Pädagogik.
Kinder mit hundegestützter Leseförderung hätten sich hinsichtlich ihrer Leseleistung deutlich mehr verbessert als eine Vergleichsgruppe mit einem Stoffhund. Der Vierbeiner habe zudem in puncto Motivation, Klassenklima und Lernfreude einen positiven Effekt gehabt und Kindern das Gefühl des Angenommenseins gegeben.
Bevor es ans Lesen geht, kommt Gotthardt mit Lotti zu einer Einführungsstunde in die Klassen, damit die Kinder den Hund kennenlernen. “Viele Kinder haben keine Haustiere mehr”, beobachtet die Pädagogin. “Ich erkläre ihnen die Verhaltensweisen des Hundes und warum man ihm vorlesen kann – weil er das nicht kann”. Mit Kindern, die Angst vor Hunden haben, arbeitet sie nicht. Später kommt sie dann einmal pro Woche in die Klasse, um mit einzelnen Kindern – meist Zweit- oder Drittklässler – in einem anderen Raum zu lesen. “In der ersten Klasse machen wir eine spielerische Annäherung an Buchstaben.”
Für Kinder sei es etwas Neues und Ungewohntes, einem Hund vorzulesen. Auch das Streicheln des Tieres trage zu einem entspannten Lernklima bei; es beruhigt nachweislich Blutdruck und Herzfrequenz und reduziert die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol. “Ich arbeite auch mit kleinen Tricks”, verrät die Projektmanagerin bei der Stiftung Lesen.
Das heißt: Manchmal lässt sie den Hund mit einem Würfel entscheiden, was er am liebsten machen will: Leckerchen suchen, Pfötchen geben, durch die Beine laufen, eine Geschichte hören – “dadurch wird es sehr spielerisch”. Deshalb lässt sie auch Lotti ein Buch durch Anstupsen mit der Nase aussuchen. Das komme immer gut an und steigere die Vorlesemotivation. “Die Kinder freuen sich: ‘Wahnsinn, die hat sich ein Buch ausgesucht…’.”
Für die Lehrkräfte der Mainzer Leibnizschule sind die Lesestunden und Begegnungen mit dem Vierbeiner eine Bereicherung des Schulalltags. “Die Kinder sind immer wieder begeistert, wenn Lotti kommt und sie mit ihr lesen können”, erklärt Grundschullehrerin Gabi Suttner. Die Möglichkeit, einem Hund vorlesen zu können, empfänden die Kinder als sehr angenehm. Egal welches Leseniveau diese hätten – “für Lotti sind alle gleich. Das gibt ihnen ein sicheres Gefühl und motiviert sie zu lesen.”
Eine Motivation für die Grundschüler ist bestimmt auch ein weiterer Trick, den Gotthardt ihrer Hündin beigebracht hat. “Ich frage den Hund anschließend, wie er die Geschichte fand – auf ein Zeichen legt Lotti ihre Schnauze dafür an mein Ohr.” Die “Ideen” des Hundes trägt die Pädagogin dann in den Lesepass des Kindes ein oder berichtet den Kindern direkt – “eine besondere Wertschätzung, weil die Rückmeldung direkt vom Hund kommt.” Und am Ende des Schuljahres bekommt jedes Kind einen Dankesbrief von Lotti.
In den USA seien Lesehunde bereits weit verbreitet; in Deutschland sei das Thema “noch am Werden”, beobachtet Gotthardt. Dabei profitieren davon auch Heranwachsende. Eine Untersuchung kam zu dem Schluss, dass sich durch einen Hund die Leseleistung von Sechsklässlern einer Hauptschule auch nach achtwöchigen Sommerferien gefestigt hatte. Sie gaben an, auch während der freien Zeit gelesen zu haben.