Menschen werfen gerne Steine. Schon als Kinder tun sie das. Es ist eine faszinierende Entdeckung: Man nimmt einen Kiesel. Streckt den Arm. Und fast ohne Anstrengung kann man eine Menge bewirken. Wasser platscht. Katze springt. Nachbarskind läuft schreiend weg. Und das Beste: Man selbst riskiert nicht viel dabei, hält sich schön im Hintergrund.
Das gilt nicht nur für Kinder.
Seit Jahrtausenden praktizieren Menschen die Steinigung als Form der öffentlichen Hinrichtung. Dabei ist es in aller Regel nicht der einzelne Stein, der tötet. Der mag Wunden herbeiführen. Aber erst die fortgesetzte Folge von Verletzungen führt zur Hinrichtung.
Daran mag man sich erinnert fühlen, wenn man aktuell in die Politik schaut. Die Führungsposition in der Bundesrepublik Deutschland ist neu zu besetzen. Und was passiert? Die eine Kandidatin, Annalena Baerbock von den Grünen, wird seit Wochen mit Hass, Schmähungen und einer Liste von vermeintlichen und echten Verfehlungen überzogen.
Der andere Kandidat, Armin Laschet, CDU, kann im Grunde machen, was er will – stets bekommt er in weiten Teilen der Öffentlichkeit das Etikett unfähig, planlos, Kasperle aufgedrückt.
Der dritte im Bund, Olaf Scholz von der SPD, genießt vergleichsweise Schonzeit. Bislang galt er wohl als zu nüchtern und langweilig. Aber seine Erfolgsaussichten ändern sich. Dann werden Jägerinnen und Jäger auch in seiner Vergangenheit wühlen. Und voraussichtlich auch bei ihm etwas finden, womit man ihn an den Pranger stellen kann.
Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Verfehlungen müssen benannt werden. Gegebenenfalls auch geahndet. Aber schaut man sich die aktuellen Aufregungen an, so zeigt sich: Da fehlt doch jede Verhältnismäßigkeit. Unklarheiten in Lebensläufen, übernommene Ideen in Buchveröffentlichungen, ungeschickte Auftritte vor laufender Kamera – darüber muss man reden. Aber: Rechtfertigt es diese Hetze?
Wir müssen aufpassen. Denn es geht dabei nicht allein um Baerbock, Laschet und Scholz. Die gesamte Art und Weise, wie wir in Politik und Gesellschaft miteinander umgehen, steht auf dem Spiel. In den USA zeigt sich, wohin so eine Entwicklung führen kann. Dort wird Wahlkampf nicht mehr um Sach-Themen geführt. Es geht im Grunde nur noch darum, den Gegner in den Schmutz zu ziehen.
Wenn das Mode macht, droht eine weitere Verrohung der Gesellschaft. In den sozialen Medien des Internets ist Hassrede schon jetzt alltäglich geworden. Irgendwann werfen die Menschen dann nicht mehr nur mit Schmutz.
Wer von euch ohne Fehl und Tadel ist, der werfe den ersten Stein, sagt Jesus im Johannes-Evangelium. Heißt: Lasst die Steine liegen.
Anders ausgedrückt: Es gibt so viele drängende Themen. Klima. Krieg. Corona. Spaltung der Gesellschaft. Über die sollten wir reden. Vielleicht auch streiten und uns aufregen. Aber uns nicht an öffentlichen Hinrichtungen beteiligen. Unsere Welt ist so zerbrechlich geworden. Wir sitzen wie in einem Glashaus. Wie schlau ist es da, mit Steinen zu werfen?