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Kurschus: Kirche soll Räume für kontroverse Debatten schaffen

Westfälische Präses über Auftrag der Kirche in der Pandemie

Bielefeld (epd). Angesichts einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft beim Umgang mit der Corona-Pandemie sollte die Kirche nach Worten der westfälischen Präses Annette Kurschus Räume für offene und kontroverse Debatten schaffen. „Unterschiedliche Perspektiven müssen zu Wort kommen können, damit wir im Diskurs bleiben“, sagte die stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) dem Evangelischen Pressedienst (epd). Im Blick auf Gottesdienste unter Corona-Bedingungen befürwortet Kurschus die Teilnahme für Geimpfte, Genesene und Getestete (3G).

 

epd: Die Corona-Pandemie beeinflusst nach wie vor das kirchliche Leben. Je nach Region oder Veranstaltung gilt inzwischen teilweise die 2G-Regel. Wird es auch in der Kirche dazu kommen?
Kurschus: Ich befürworte 3G. In der westfälischen Kirche haben wir früh gesagt: Damit wir das gottesdienstliche Leben möglichst unbeschwert wieder aufnehmen können, ist die 3G-Regel hilfreich. Selbst Menschen, die nicht geimpft werden können oder sich aus unterschiedlichen Gründen nicht impfen lassen wollen, können sich jederzeit testen lassen. Es wird also niemand ausgeschlossen. Wer diese Regelungen nicht akzeptiert, schließt sich in gewisser Weise selbst aus. Wir sind eine Gemeinschaft, in der es nicht allein um mich geht, sondern auch um die anderen Menschen, die ich gefährden könnte.

 

epd: Auch die Digitalisierung kam durch die Pandemie voran. Sind die Fortschritte ausreichend oder wünschen Sie sich in diesem Bereich weitere Fortschritte?
Kurschus: Wir haben einen Riesensprung gemacht: Menschen, die vor der Pandemie keine digitalen Verbindungen besaßen, mussten welche aufnehmen, um nicht von jeder Kommunikation abgeschnitten zu sein. Vieles, was dabei – zunächst aus Not! – auf den Weg gebracht wurde, sollten wir sinnvollerweise – als Tugend! – beibehalten – etwa die Möglichkeit, dass sich Gremien auch digital treffen können. Das ist eine enorme Erleichterung, das spart Wege. Und es ist auch ökologisch ein großer Fortschritt, wenn weniger Leute zu kurzen Sitzungen kreuz und quer durch das Land reisen. Mit den digitalen Formaten haben wir auch für Gottesdienste und Andachten kostbare ergänzende Formate gewonnen.

 

epd: Gibt es Grenzen für die digitalen Möglichkeiten?
Kurschus: Die vielen Möglichkeiten, sich sonntags in Gottesdienste mit einem Livestream zuzuschalten oder Gottesdienste am Radio oder im Fernsehen mitzufeiern, führen dazu, dass wir insgesamt mehr und auch jüngere Menschen erreichen. Was dabei aber auf der Strecke bleibt, ist das persönliche Gemeinschaftserleben. Ich merke das selbst: In diesen Formen des Gottesdienstes fühle ich mich als Zuschauerin, ich bin nicht wirklich mittendrin im Geschehen. Meine Sorge ist auch, dass mit einer zunehmenden Digitalisierung die ältere Generation weitgehend ausgeschlossen wird, die ein wesentlicher Teil unserer Gemeinden ist.

 

epd: Was heißt das für die Zukunft?
Kurschus: Der Zugewinn an digitalen Formen ist erfreulich. Wir sollten alle neuen Formen der Kommunikation nutzen, um das Evangelium in die Welt zu bringen. Digitalisierung an sich ist für mich aber nicht das Zauberwort, das alles löst. Sie ist nicht die Garantin für die Zukunft der Kirche. Sie ist nützlich als Ergänzung, ersetzt aber keinesfalls das analoge Miteinander.

 

epd: Der Umgang mit der Pandemie spaltet die Gesellschaft. Spüren Sie das auch in der Kirche?
Kurschus: Die Kirche ist ein Spiegel der Gesellschaft: Alles, was sich in der Gesellschaft findet, findet sich auch in unseren Gemeinden. Auch da gibt es Menschen, die sagen: Wir dürfen uns unsere Freiheit nicht nehmen lassen, lasst uns endlich wieder zur Normalität übergehen. Ebenso gibt es auch in unseren Gemeinden Menschen, die bewusst vorsichtig sind und denen es auf unsere Verantwortung ankommt. Die sagen: Wir müssen uns besonders an alle Regeln und Vorschriften halten, weil Kirche dafür steht, dass wir für die Menschen da sind. Die ganze Bandbreite ist in den Gemeinden vertreten.

 

epd: Wie könnten die Gräben überbrückt werden?
Kurschus: Kirche ist aus meiner Sicht dazu verpflichtet, Räume zu schaffen für offene und kontroverse Debatten. Unterschiedliche Perspektiven müssen zu Wort kommen können, damit wir im Diskurs bleiben. Ich halte es für einen wichtigen Auftrag der Kirche, den Gemeinsinn in unserer Gesellschaft zu fördern. Wir erleben ja, wie es immer mehr zu Zersplitterung kommt. Wir bekommen immer kleinere Gruppierungen, auch in der Politik.
Offensichtlich sind Menschen nicht mehr bereit, miteinander ihre Interessen abzugleichen und nach Kompromissen zu suchen. Mit Respekt habe ich erlebt, wie sich Gemeinden vor Ort in ihren Presbyterien und mit ihren Gemeindemitgliedern diesem mühsamen Diskurs ausgesetzt haben.

 

epd: Der weitere Umgang mit der Pandemie wird kontrovers diskutiert. Kommt Ihnen die Aufhebung der Corona-Maßnahmen zu früh?
Kurschus: Ich gebe zu, dass mir in größeren Menschenansammlungen immer noch unbehaglich zumute ist. Da bin ich persönlich weiterhin vorsichtig. Die neue Phase in der Pandemie wird sein, dass wir den Umgang mit dieser Situation stärker den einzelnen Menschen überlassen müssen. Es gibt kein Leben ohne Gefährdungen. Wir bringen unsichtbare Viren nicht aus der Welt. Es wird also darauf ankommen, mit dieser latenten Gefahr leben zu lernen. Zu einem zuversichtlichen Leben, das um seine Verletzlichkeit weiß, kann Kirche mit ihrer Botschaft, die auf Vertrauen und Hoffnung setzt, entscheidend beitragen.
Genauso wichtig ist die Toleranz gegenüber Menschen, die vorsichtig bleiben, die lieber eine Maske aufsetzen wollen oder an Veranstaltungen vorerst weiterhin digital teilnehmen. Die Frage heißt: Wie können wir verantwortlich um Vertrauen und Zuversicht werben, ohne leichtfertig zu sein?