Im Hospiz oder auf der Palliativstation über Musik sprechen? Genau das tut Stefan Weiller. Er unterhält sich mit Menschen an ihren letzten Lebenstagen über jene Lieder und Stücke, die für sie eine besondere Bedeutung haben. Aus diesen “Letzten Liedern” entsteht ein immer wieder neues Bühnenprogramm. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht der Künstler über den Umgang mit dem Tod, über den Trost der Musik und über befreienden Humor.
KNA: Herr Weiller, gibt es “Klassiker”, die Ihnen immer wieder begegnen?
Weiller: Es gibt Häufungen. Das hängt vom Alter und dem kulturellen Hintergrund ab. Kinder- und klassische Volkslieder wie “Der Mond ist aufgegangen” trifft man häufiger an: die Lieder, die einem die Eltern oder Großeltern vorgesungen haben. Offenbar setzen sie sich in der Erinnerung besonders fest, und gerade alte Menschen rufen sie dann wieder ab. Allerdings erkennt man auch einen Wandel: Momentan sterben viele Menschen aus der “Generation Stones”, als nächstes kommt dann die “Generation Madonna”, zu der ich gehöre. Nicht nur verändert sich, welche Musik gehört wird, sondern auch das Verhältnis zu ihr.
KNA: Inwiefern?
Weiller: Menschen über 50 erinnern sich noch an ihre erste Schallplatte, diejenigen über 35 an ihre erste CD. Das hatte einen fühlbaren Wert. Wenn man die ganz Jungen fragt, was war denn dein erster Musik-Download – daran erinnert sich kaum jemand. Unabhängig davon ist meine Erfahrung: Musik gewinnt Bedeutung, wenn sie mit Menschen verbunden ist.
KNA: Die Recherchen für die “Letzten Lieder” machen Sie seit 13 Jahren in mehreren Ländern. Wie gehen Sie vor?
Weiller: Hospizdienste oder Palliativstationen fragen mich, ob ich mir vorstellen könnte, das Projekt bei ihnen vor Ort zu erarbeiten. Sie fragen dann Menschen mit einer Diagnose, die keine Heilung mehr verspricht, ob sie sich vorstellen können, mit mir über die Musik zu sprechen, die in ihrem Leben bedeutsam war. In Corona-Zeiten haben wir das auch online umgesetzt. Der Tod wird in diesen Gesprächen gar nicht immer benannt; oft kommen wir auf Lebensstationen zu sprechen wie die erste Liebe, die Hochzeit, manchmal auch eine Trennung.
KNA: Viele Menschen kennen das Gefühl, dass ein Lied ihnen in schwierigen Momenten geholfen hat. Funktioniert das auch in der letzten Lebensphase?
Weiller: Absolut. Ich glaube, dass sich mit tröstlicher Musik eine Art Versprechen auf gelingendes Leben verbindet. Sie sagt etwas darüber, wer man ist und woran man sich gerne erinnere. Musik kann auch ein negativer Trigger sein, das wird nur sehr selten benannt. Einmal hat mir eine Frau von Missbrauch durch ihren Vater berichtet, der Musiker war. Mit der Musik des entsprechenden Genres verband sie bittere Momente.
KNA: Inwiefern kann es gut tun, sich zum Lebensende hin mit Musik zu befassen?
Weiller: Die meisten Menschen halten eine Art der Rückschau: Was war in meinem Leben, was war gelungen und was nicht? Musik kann dabei helfen, mit diesen Erinnerungen und Erfahrungen ein Einvernehmen zu finden. Und sie kann ganz konkret guttun: Manche Menschen, die ich treffe, können nicht mehr laufen, haben die Beherrschung über ihren Körper verloren. Aber wenn sie ein bestimmtes Lied hören, wippen sie mit dem Fuß mit. Das ist sehr berührend. Musik ist etwas zutiefst Menschliches, steht aber zugleich über den Dingen.
KNA: Was meinen Sie damit?
Weiller: Viele Menschen empfinden den Gedanken, einfach zu gehen – schwups, nichts ist mehr da – als beklemmend. Das passt zu der Erfahrung, dass man Musik nicht einmal im Moment des Hörens greifen kann. Und trotzdem ist sie da, sie vermittelt einen Eindruck. So kann auch der Mensch eine Art Widerhall haben, und das ist ein tröstlicher Gedanke. Viele Menschen fragen sich am Lebensende, wofür sie gelebt haben und was von ihnen bleiben wird.
KNA: Auch eine Glaubensfrage …
Weiller: … die in dieser Situation oft neue Relevanz erhält. Manche Menschen finden am Lebensende wieder zu einem regelrechten Kinderglauben. Ich finde das legitim: Wann, wenn nicht in der Not, soll jemand Gottvertrauen entwickeln?
KNA: Macht sich der Rückzug von Religion in Ihrer Arbeit bemerkbar?
Weiller: In der Tat gerät das geistliche Lied ein bisschen ins Abseits, was ich persönlich bedauere. Ein aktueller Popsong erschließt sich vielen leichter als ein Text aus dem 17. oder 18. Jahrhundert. Dessen Antwort mag nicht so süffig und eingängig sein, wenn man ihn aber durchdenkt, enthält er eine ganz andere Tiefe.
KNA: Kann man von Sterbenden etwas lernen?
Weiller: Diesen Anspruch zu erheben, fände ich überfordernd. Man kann von Experten lernen, die Erfahrung mit Sterbenden haben. Ich nehme viele Impulse und Einsichten aus meinen Begegnungen mit, auch praktische Dinge: Was befindet sich in letzten Räumen? Was nehmen die Menschen mit, wie teilen sie ihre Zeit ein, wie gestaltet sich der Alltag?
In der öffentlichen Debatte geht es oft darum, dass der Wünschewagen ins Hospiz kommt und einen nochmal ans Meer bringt. Das sind die Ideen der Gesunden. Diejenigen, die wirklich in der Situation sind, wollen – so meine Einschätzung – eher nicht mehr ans Meer, sondern sind oft froh, wenn sie noch allein zur Toilette können. Sicherheit, Nähe und Vertrauen sind vielen wichtiger als letzte Abenteuer, Konsum und Events.
KNA: Da klingt ein wenig Gesellschaftskritik an …
Weiller: Heute soll sich alles gut anfühlen. Selbst um den Tod eine Wellnesskultur zu etablieren, erscheint mir verlogen. Es ist wunderbar, dass wir in Deutschland eine so vitale Hospizarbeit haben. Auch entstehen neue Initiativen, etwa für Tageshospize, die eine große Entlastung für pflegende Angehörige bieten können. Aber viele Strukturen entsprechen noch nicht dem, was die Menschen sich wünschen.
KNA: Was könnte jede und jeder Einzelne tun?
Weiller: Ein Beispiel: Ich habe eine alte Dame kennengelernt, die in gesunden Tagen leidenschaftlich gerne Salt-and-Vinegar-Chips mochte. Jeder Besucher brachte ihr eine Tüte davon mit, was lieb gemeint war. Doch sie konnte kaum noch essen und hat sich aus Dankbarkeit gezwungen, wenigstens mal einen Chip zu knabbern. Am Ende, das ist meine Erfahrung, geht es nicht mehr um Materielles. Vielleicht hat man nie gelernt, die eigenen Eltern zu umarmen. Doch das Dasein, die Hand halten, miteinander schweigen, vielleicht gemeinsam singen – das sind die Geschenke, um die es dann geht.
KNA: Zu Ihrem Bühnenprogramm gehören auch humoristische Elemente. Wie passen Humor und Tod zusammen?