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Künstler Erwin Wurm über enge Verhältnisse und weite Pullover

Der österreichische Bildhauer und Installationskünstler Erwin Wurm gilt als einer der bedeutendsten Künstler der Gegenwart. Im Interview spricht er über aufgeblasene Wassermelonen, politische Kunst und Durchhaltewillen.

Das Phänomen Erwin Wurm in wenige Worte zu fassen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Kurz vor dem 70. Geburtstag des österreichischen Künstlers am Samstag (27. Juli) hat Rainer Metzger den Versuch unternommen, in einer reich bebilderten Biografie von rund 300 Seiten: “Vieles in seinem Oeuvre besteht aus der Weiterverwendung und Umwidmung von bereits als Werk Vorhandenem.” Um Wurms Werk soll es auch im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) gehen.

KNA: Herr Wurm, Sie werden immer wieder als einer der bedeutendsten Künstler der Gegenwart bezeichnet. Für alle, die Sie trotzdem noch nicht kennen: Was genau machen Sie?

Wurm: Ich bin Bildhauer und beschäftige mich mit unserer Welt im Allgemeinen und im Besonderen.

KNA: Sollte Kunst politisch sein?

Wurm: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass politische Kunst zum größten Teil schlechte Kunst ist. Deswegen möchte ich meine künstlerische Arbeit von diesem Drängen und diesen Wünschen freihalten. Ich bin zwar ein politisch denkender Mensch. Doch ich möchte meine Arbeit nicht herabwürdigen, indem ich mich an politischen Zuständen abarbeite.

KNA: Aber steckt nicht zum Beispiel eine politische Aussage hinter der “Walking Bag” – der Skulptur einer Damen-Handtasche auf zwei Beinen, die am Eingang der Bonner Innenstadt steht?

Wurm: Ich möchte mich über unsere Zeit äußern und diese Zeit interpretieren. Im Falle der “Walking Bag”…

KNA: …, die der berühmten Birkin-Handtasche des französischen Luxuslabels Hermes nachempfunden ist…

Wurm: …, habe ich mich spielerisch der Frage angenähert, warum wir uns selbst zu Schaufensterpuppen degradieren, indem wir bestimmte Schuhe, Taschen oder Kleidungsstücke tragen.

KNA: Steckt auch Humor in diesem Kunstwerk?

Wurm: Ich bin kein Witze-Erzähler. Mich interessiert das Paradoxe in unserer Welt. Die Realität ist ja absurder als alles, was man sich ausdenken kann.

KNA: Stand das Interesse am Absurden auch Pate beim “Narrow House”, der maßstabsgetreuen Nachbildung Ihres Elternhauses auf einer Breite von gut einem Meter?

Wurm: Das Haus ist ein Sinnbild der Nachkriegsgesellschaft in Österreich. Die Enge, das klaustrophobische Gefühl, das hier vermittelt wird, soll betroffen machen. Lustig ist da gar nichts.

KNA: Warum haben Sie dafür ausgerechnet Ihr Elternhaus gewählt?

Wurm: Jeder weiß, was ein Elternhaus ist, wie es aussieht. Ich habe versucht, ein allgemeingültiges Bild zu schaffen von dem, was ich unter der Idee vom Elternhaus verstehe. Viele Besucherinnen und Besucher kommen tatsächlich auf den Gedanken, dass das etwas mit Familie zu tun hat, mit Althergebrachtem. Wenn wir zurückkehren ins Elternhaus, kommt uns alles kleiner vor, als wir es in Erinnerung hatten.

KNA: Macht Ihnen dieser Gedanke Angst? Sie werden 70, haben selbst Kinder…

Wurm: Nein, das macht mir keine Angst. Es hat schließlich etwas Gutes, wenn jede Generation Neues schafft, das Überkommene verbessert. So etwas ist wichtig, das hält die Welt im Gange.

KNA: Wenn Sie auf Ihr Heimatland Österreich blicken und die aktuellen politischen Zustände – mit welcher Skulptur würden Sie das illustrieren?

Wurm: Naja, nicht nur Österreich, sondern ganz Europa ließe sich vielleicht als aufgeblasene Melone darstellen, als Wassermelone.

KNA: Wollen Sie das Bild weiter ausführen, oder sollen wir das so stehen lassen?

Wurm (lacht): Nein, das reicht.

KNA: Es gibt die Kunst von Erwin Wurm, die Karikaturen von Gerhard Haderer, die Romane von Wolf Haas, David Schalko oder Heinrich Steinfest, das Schauspiel eines Josef Hader. Einverstanden, dass österreichische Kunst und Literatur einen besonderen Hang zum Sarkasmus und zum Grotesken haben?

Wurm: Österreich hat eine spezielle Geschichte. 700 Jahre Habsburger Monarchie, 2.000 Jahre katholische Kirche: Zwischen diesen zwei Machtblöcken ist das, was man die österreichische Seele nennt, entstanden. Nach dem Ersten Weltkrieg brach alles auseinander und das Pendel schlug mal nach links, mal nach rechts aus. Ein barocker Katholizismus hat seine Spuren hinterlassen, auf der anderen Seite war das Judentum ein wesentlicher und sehr wichtiger Teil unserer Gesellschaft. In der Kunst gab es die Expressionisten und die Wiener Aktionisten, Kokoschka und Klimt. Das ist alles schon sehr österreichisch, aber für Österreicher schwer zu greifen. Vermutlich braucht es dafür den Blick aus dem Ausland.

KNA: Bleiben wir kurz beim Faktor Religion. Sie haben 2020 als Fastentuch im Wiener Stephansdom einen überdimensionalen lila Strickpullover aufgehängt. Wie kam es dazu?

Wurm: Das ging auf die Initiative von Dompfarrer Toni Faber zurück. Es gibt ja die Schutzmantelmadonna, die den Gläubigen sozusagen unter ihrem Mantel Unterschlupf gewährt. Bei mir ist daraus halt ein Pullover geworden, weil ich immer wieder mit Pullovern gearbeitet habe. Ein Pullover bietet Schutz, man kann sich darin verkriechen, man kann in ihn hineinschlüpfen und mit seiner Hilfe selbst zu einer Art Skulptur werden.

KNA: Was verbinden Sie mit der katholischen Kirche?

Wurm: Der Katholizismus hat etwas erfunden, was einzigartig ist auf der ganzen Welt, nämlich die Beichte und die Vergebung der Sünden.

KNA: Naja, aber selbst die meisten Katholiken können mit der Beichte nicht mehr viel anfangen.

Wurm: Wer gibt schon gerne zu, dass er Fehler begangen hat? Aber diese Idee der Vergebung – die gibt’s doch sonst nirgendwo mehr.

KNA: Wenn man sich anschaut, wie sich die Menschen in den Sozialen Medien beharken, könnte da tatsächlich etwas dran sein.

Wurm: Durch die Sozialen Medien hat fast jeder Zeitgenosse die Möglichkeit bekommen, seine Meinung kund zu tun, auch wenn es niemanden interessiert. Das hat fatale Folgen.

KNA: Aus der Nummer kommen wir wohl nicht mehr raus.

Wurm: Ich fürchte nein.

KNA: Wie lange dauert es, bis große Plastiken oder Skulpturen wie der aus der Form gelaufene Hot Dog Bus entstehen?

Wurm: Im Atelier arbeiten wir mit zwölf Leuten und leisten die Vorarbeiten bis zum originalen Modell. Beim Hot Dog Bus haben wir erstmal dieses Auto gesucht und umgebaut. Dann musste man es ausstaffieren und die Polyesterplatten aufkleben. Dieser Prozess hat mindestens ein Dreivierteljahr gedauert.

KNA: Bekannt geworden sind Sie auch für Ihre “One Minute Sculptures”, bei denen prominente und weniger prominente Zeitgenossen mit verschiedenen Objekten zu kurzlebigen Skulpturen mutieren. Das lässt an den Ausspruch von Beuys denken “Jeder Mensch ist ein Künstler” oder an Andy Warhol, der einst prophezeite, dass künftig jedermann für 15 Minuten berühmt sein werde. Sind wir am Ende der Kunst angelangt?

Wurm: Bei den “One Minute Sculptures” wechselt der Mensch vom betrachtenden Subjekt zum Objekt. Er wird also zu Kunst, aber er ist kein Künstler. Wir sind nicht am Ende der Kunst angelangt, Gott behüte! In den vergangenen Jahrzehnten wurde zum Beispiel immer wieder das Ende der Malerei ausgerufen und der Malerei geht es heute besser denn je. Nein, ich glaube an die Kraft der Kunst.

KNA: Halten Sie die aktuellen Kunstpreise noch für vertretbar?

Wurm: Wir leben halt in einem kapitalistischen System und es wird für Vieles sehr viel gezahlt.

KNA: Wenn Sie auf den künstlerischen Nachwuchs von heute schauen – hat der es schwerer, sich durchzusetzen als der junge Erwin Wurm?

Wurm: Es gab in den 80er-Jahren auch sehr viele junge Künstlerinnen und Künstler. Die meisten haben damals aufgehört und einige wenige sind übrig geblieben. Das wird heute nicht anders sein, denke ich.

KNA: Gibt es Kriterien, die über den Erfolg auf dem Kunstmarkt entscheiden?

Wurm: Man muss das Richtige zur richtigen Zeit machen. Man muss die richtigen Leute treffen, die einem helfen können. Man muss kritikfähig bleiben, aus Fehlern lernen und sich verbessern wollen. Und man braucht einen eisernen Durchhaltewillen.

KNA: Spätestens jetzt ist es allerhöchste Zeit für einen Geburtstagswunsch. Mit wem würden Sie gern zusammenarbeiten – vielleicht mit dem anderen berühmten Skulpteur aus Graz, Arnold Schwarzenegger?

Wurm: Das hat seinerzeit leider nicht geklappt. Aber ich würde gern Picasso sprechen, bei einem Abendessen, wenn das noch ginge. Oder mit Samuel Beckett.

KNA: Zum Schluss würde der Interviewer Heinz vom Künstler Wurm gern noch wissen, welche heinzigartigen Wortspiele mit seinem Nachnamen er wirklich gar nicht mehr hören kann.

Wurm: Ach, da gibt’s einiges. “Es wurmt mich”, “Da ist der Wurm drin” und so weiter. Aber wissen Sie, was interessant ist?

KNA: Nein.

Wurm: Als ich die ersten Male in Deutschland ausgestellt habe, wurde ich immer gefragt, wie denn mein richtiger Name laute. Die haben alle gedacht, Erwin Wurm sei mein Künstlername! Also, die Kombination von Erwin und Wurm, die ist schon sehr speziell. Da haben sich meine Eltern was einfallen lassen.