Die unabhängige Aufarbeitungskommission hat der evangelischen Kirche mit Blick auf ihren Umgang mit sexualisierter Gewalt schwere Versäumnisse vorgeworfen. Die Selbstwahrnehmung weiter Teile als progressiv und liberal sowie ein Harmoniezwang hätten zu dem Mythos geführt, die evangelische Kirche sei ein sicherer Ort, erklärte das Gremium am Dienstag in Berlin. Es habe ein durch Konfliktunfähigkeit dominiertes “Milieu der Geschwisterlichkeit” gegeben.
Die Kommission äußert sich knapp zwei Wochen nach Vorstellung der ersten bundesweite Missbrauchsstudie für die Evangelische Kirche in Deutschland und die Diakonie. Dort fanden Wissenschaftler Hinweise auf 2.225 Betroffene und 1.259 Beschuldigte in den Jahren 1946 bis 2020. Weil den Forschern nach eigenen Angaben von 19 der 20 deutschen Landeskirchen nur ein Teil der Ergebnisse aus ihren Akten zur Verfügung gestellt wurde, gehen sie von weit höheren Zahlen aus. Mit Hilfe einer Hochrechnung kommen sie auf fast 10.000 Betroffene, die in den Akten verzeichnet sein könnten.
Die Kommission kritisiert weiter, dass es Intransparenz, Verantwortungsdiffusion und ein Fehlen von verbindlichen Regeln im Umgang mit Grenzüberschreitungen gegeben habe. Die evangelische Kirche müsse ihre evangelisch-spezifische Haltung einer kritischen, auch theologischen Reflexion unterziehen und klare und einheitliche Standards für alle evangelischen Träger und Einrichtungen schaffen.
Weiter forderte die Kommission die evangelische Kirche dazu auf, das Recht auf individuelle Aufarbeitung einschließlich des Rechts auf möglichst weitgehenden Aktenzugang kirchenrechtlich zu verankern. Das Verfahren für die Zahlung von Anerkennungszahlungen müsse zudem vereinheitlicht und transparent gestaltet werden. Maßstab für die Höhe der Zahlung sollte demnach die Summe von 300.000 Euro sein, die das Landgericht Köln im Juni 2023 einem Betroffenen sexualisierter Gewalt im Bereich der katholischen Kirche zugesprochen habe.
Die neun regionalen unabhängigen Aufarbeitungskommissionen, zu deren Einrichtung sich die evangelische Kirche verpflichtet hatte, müssten zudem klären, wie die bisher nicht erfolgte Auswertung von Personalakten vorgenommen werden könne. Nach Angaben der Autoren der Missbrauchsstudie leitete lediglich eine Landeskirche die Ergebnisse der Untersuchungen aus Personal- und Disziplinarakten weiter, die anderen Landeskirchen beschränkten sich demnach auf die Untersuchung der Disziplinarakten.
Die unabhängige Aufarbeitungskommission ist bundesweit zuständig und war 2016 vom damaligen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, initiiert worden. Die Kommission soll Ausmaß, Art und Folgen von sexuellem Kindesmissbrauch in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR untersuchen.