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Kirchtürme als Orientierungshilfen für Seelen und Segelschiffe

Wenn tagelang der Ostwind über Hiddensee geweht hat, dann zeichnet sich an der Westküste südlich von Neuendorf deutlich ein Quadrat von Feldsteinen im Niedrigwasser ab. Es ist das Fundament einer Kapelle, die hier einst Mönche errichtet hatten. Neben der spirituellen Einkehr hatte sie auch eine ganz weltliche Aufgabe. Hier im Süden der Insel sicherten die Zisterzienser, die im Norden der Insel ihr Kloster hatten, mit einem Leuchtfeuer die Hafeneinfahrt nach Stralsund. Darum trug diese Kapelle auch den Namen „Luchte“, hochdeutsch „Leuchte“. Als sie in einer Sturmflut vom Meer verschlungen wurde, gab es auf Hiddensee keine Mönche mehr. Dafür baute man auf der Düne einen kleinen Leuchtturm, auf den der Name der Kapelle überging und der trotz Radar und GPS bis heute vor allem Hobbyseglern den richtigen Weg an den Untiefen vorbei weist.
Von der Luchte aus ist jenseits des Meeresarmes auf dem Festland deutlich das Pendent der Kapelle zu erkennen: Es ist der Kirchturm von Moordorf. Weit ragt seine achteckige hohe Spitze aus den umgebenden Baumkronen heraus. Wer die pommersche, mecklenburgische und holsteinische Ostseeküste entlangfährt, trifft in fast regelmäßigen Abständen auf solche mittelalterlichen Kirchen, die mit einem eigentlich überdimensionierten Turm samt dieser achteckigen Turmhaube versehen sind. Ebenso findet sich diese Turmform am größten Binnensee Norddeutschlands, der Müritz. Auch diese Türme dienten nicht nur der seelischen Erbauung an Land, sondern auch der Navigation auf dem Wasser und damit dem Überleben der Fischer und Seeleute.
Noch eindrücklicher sind etliche Kirchtürme in den Küstenstädten, die den Seefahrern als Orientierungshilfe dienten und sie in den sicheren Hafen lotsten. So misst allein schon der Kirchturm von St. Petri zu Rostock 45 Meter. Doch darauf sitzt noch ein hoher Turmhelm aus Kupfer, sodass die Gesamthöhe 116, 93 Meter beträgt. Ebenso eindrücklich sind die Türme von St. Marien zu Wismar oder von St. Petri zu Lübeck. Sicher waren sie auch Ausdruck eines starken Selbstbewusstseins der Hanse. Doch ebenso dienten sie eben auch als Orientierungshilfen bei der oft gefährlichen Einfahrt in die Meeresarme oder Flussmündungen, die zwischen dem offenen Meer und dem schützenden Hafen lagen.
Noch deutlicher als Orientierungshilfe für Seefahrer sind die Küstenkirchen zu erkennen, die in der Barockzeit hohe Turmaufsätze aus Kupfer bekamen, in die eine offene Plattform eingearbeitet wurde, Laterne genannt. Solche überdimensionierten Turmhelme finden sich zum Beispiel auf der Nordseehalbinsel Eiderstedt. Zwar ist dort die Turmspitze der St.-Christians-Kirche zu Garding, weil auf einem Hügel erbaut, mit 46 Metern die höchste Erhebung Eiderstedts und damit das wichtigste Seezeichen der Halbinsel dort. Doch der Kirchturm von St. Laurentius zu Tönning erhebt sich 64 Meter über dem platten Land, davon gehört die gute Hälfte zum Turmhelm, der durch eine solche Plattform in Laternenform unterbrochen wird. Auch den Turm der mächtigen Stralsunder Marienkirche krönt eine Laterne.
Auch etliche Minarette haben seit Jahrhunderten solche Laternen als oberen Abschluss. Einige Bauhistoriker meinen, dass besonders in Nordafrika bewusst die Architektur antiker Leuchttürme aufgegriffen wurde.
Doch anders als bei den rein technischen Bauten der Leuchttürme haben diese Kirchtürme und Minarette als sakrale Bauwerke immer auch spirituelle Aufgaben, wie sie in Psalm 86, 11 zum Ausdruck kommen: „Weise mir Herr, deinen Weg, dass ich wandle in deiner Wahrheit.“