Schon mal versucht, einen Sack Flöhe zu hüten? Diese Assoziation kann aufkommen, wenn man sich die Aufgabe „Gemeindeleitung“ anschaut: Bewegung in alle Richtungen, ständiges Auf und Ab – und wenn man denkt, dass der Sack endlich zugebunden werden kann, hüpft garantiert wieder einer aus der Reihe und beißt auch mal zu.
Gemeinde: ein bunter Haufen Menschen
Gemeinde ist nun einmal ein bunter Haufen an Menschen, die eigentlich nur eines verbindet: Sie zählen sich zu Jesus. Was das für ihr Leben heißt, wollen sie herausfinden – mit dem Wort Gottes als Kompass, und am besten mit anderen zusammen. Und wo solche Gemeinschaften entstehen, kommt ganz schnell die Frage auf: Wie wollen wir uns denn organisieren beim Gottesdienstfeiern, beim Austausch über den Glauben oder bei der Hilfe für andere? Wer soll bestimmen, was wir als Gemeinschaft der Nachfolgerinnen und Nachfolger Christi glauben und leben?
Um diese Fragen zu klären, gibt es Gemeindeleitung: gewählte Frauen und Männer, die in Presbyterien oder Kirchenvorständen stellvertretend für alle Gemeindeglieder über Gottesdienstformen und Kindererziehung, Musikstile und Gebäudesanierung, Besuchskreise und Gemeindefeste, Personalplanung und Jahreshaushalte diskutieren und entscheiden. Sie tun das mit viel Energie und Idealismus – auch wenn ihre Aufgaben dem Flöhehüten manchmal sehr nah kommt.
Das war schon zur Zeit des Neuen Testaments so, als das, was wir heute unter Gemeinde verstehen, erfunden wurde. Die Apostelgeschichte und die Briefe der Apostel berichten, wie die ersten Christen nach Formen einer Gemeinschaft suchten, die Christus wirklich nachfolgte. Dazu gehörte die Gestaltung des Gottesdienstes inklusive Abendmahl genauso wie die Sammlung und Verteilung von Spenden: Wer darf im Gottesdienst reden? Ist das Abendmahl zum Sattessen da oder nur eine symbolische Handlung? Wer ist zuerst dran beim Verteilen der Spenden? Über all diese Themen haben die ersten Gemeinden gestritten.
Über allem stand dabei die Frage: Was wollte Jesus – oder, um es theologisch auszudrücken: Was ist die rechte Lehre? Der Apostel Paulus vertraute in diesen Fragen zunächst auf das Wirken des Heiligen Geistes. Aber schon bald wurden Entscheidungen in Gemeindefragen dann doch lieber einem Kreis gewählter Vertreter übertragen (Apostelgeschichte 6,5; 15,6; 21,18).
Allerdings verlor sich die Form der Gemeindeleitung durch eine Gruppe von „Ältesten“ – dem „Presbyterium“ – im Laufe der Kirchengeschichte. Bald gab es für eine Gemeinde nur noch einen „Hirten“ – aus dem demokratisch orientierten Amt der gewählten Gemeindevorsteher wurde das von oben eingesetzte Priesteramt.
Es waren die Reformatoren, die den Gedanken einer Kirchenleitung „von unten nach oben“ wiederentdeckten. Er war eine Konsequenz aus dem allgemeinen Priestertum: Wenn jedes Gemeindeglied in seinem Glauben mündig ist, können ihm auch geistliche Leitungsfunktionen zugetraut werden. Die erste Kirchenordnung, die diesen Gedanken aufnahm, war 1539 die „Ziegenhainer Zuchtordnung“. Sie legte fest, dass jede Gemeinde geeignete Gemeindeglieder wählen sollte, um gemeinsam mit dem Pfarrer die Gemeinde zu leiten und für die rechte evangelische Lehre und ein christliches Leben in der Gemeinde zu sorgen. Ähnliches schrieb der Genfer Reformator Johannes Calvin in der Genfer Kirchenordnung von 1541/42 fest – allerdings traute Calvin den Gläubigen nicht so recht. Daher wurden die Ältesten nicht von der Gemeinde gewählt, sondern mit Vertretern der Obrigkeit besetzt.
Auf Calvins Ordnung stützten sich in den folgenden Jahren viele reformatorische Kirchen. In anderen deutschen Staaten wurde ein presbyterial-synodales System entwickelt, bei dem die Leitungsgremien der Gemeinden jeweils Vertreter zu Provinzial- oder Nationalsynoden entsandten.
Dieses fast schon basisdemokratische System verschwand allerdings in den deutschen Kirchen in den folgenden Jahrhunderten fast wieder in der Versenkung. Das landesherrliche Kirchenregiment machte den Landesherrn zum Kirchenoberhaupt; Synoden wurden, wenn überhaupt, ausschließlich mit Pfarrern besetzt.
1835 kam es in Preußen zu einer Verbindung beider Systeme, bei dem die Gemeinden Älteste wählten und weitere Rechte, wie die Pfarrwahl, erhielten; parallel dazu gab es noch eine staatliche Kirchenaufsicht. Diese Mischform wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts von allen deutschen Staaten übernommen, bis nach der Revolution von 1918/19 die landesherrliche Kirchenhoheit vollends wegfiel. Die Landessynode wurde höchstes Leitungsgremium der Kirchen. Die Gemeinden wählten ihre Leitung selbst und entschieden in den Kirchenvorständen zum Beispiel über die Pfarrstellenbesetzung, die Gottesdienstordnung und die Finanzen. So wurde es auch nach 1945 in den Kirchenordnungen festgelegt.
Es braucht Menschen, die Verantwortung tragen
Übrigens: Frauen dürfen seit 1919 mitwählen – und in Westfalen seit 1923, in Lippe seit 1946 auch gewählt werden.
Dass Kirche „von unten“ geleitet wird, angefangen in den Gemeinden, die durch Wahl ihre Gremien besetzen, über die Kreissynoden bis hoch zur Landessynode, ist also nicht selbstverständlich, sondern eine Errungenschaft der jüngeren Geschichte (siehe Schaubild Seite 14). Eine Errungenschaft, die wir in unseren Gemeinden hochhalten sollten. Darum eine Verbeugung vor allen, die bereit sind, diese Verantwortung zu übernehmen.