Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Wiederaufnahme von Mordverfahren ist von den politischen Parteien unterschiedlich aufgenommen worden. Die Union bedauerte das Urteil und sprach von einer “bitteren Entscheidung” für die Angehörigen von Mordopfern. Die FDP lobte eine Stärkung des Rechtsstaats.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte am Dienstag entschieden, dass freigesprochene Verdächtige nicht allein wegen neuer Beweise noch einmal für dieselbe Tat angeklagt werden können. Die von der großen Koalition 2021 beschlossene Regelung zur Wiederaufnahme von Strafverfahren gegen rechtskräftig Freigesprochene sei verfassungswidrig. Es gebe in der Verfassung eine absolute Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Es gebe keine Erforschung der Wahrheit um jeden Preis.
Im Grundsatz entschied der Senat einstimmig. Der Gesetzgeber hatte 2021 das Verbot der Wiederaufnahme von Strafverfahren für schwerste Verbrechen wie Mord und bestimmte Völkerstraftaten aufweichen wollen. Als Grund für diese Neuregelung wurde die Korrektur “unbefriedigender” oder “schlechterdings unerträglicher” Urteile genannt. Im konkreten Fall ging es um einen Mann, dem vorgeworfen wird, 1981 eine Schülerin vergewaltigt und getötet zu haben. Das entsprechende Strafverfahren endete 1983 mit einem Freispruch. Wegen neuer Beweismittel sollte der Fall wiederaufgenommen werden. Die Verfassungsbeschwerde des Mannes hatte nun Erfolg.
Der Richter Peter Müller und die Richterin Christine Langenfeld erklärten in einem Sondervotum, in engen verfassungsrechtlichen Grenzen könne der Gesetzgeber die bestehenden Möglichkeiten einer Wiederaufnahme ergänzen. Der Gesetzgeber dürfe berücksichtigen, dass der Rechtsfrieden Schaden erleiden könne, wenn im Falle schwerster Straftaten ein Betroffener trotz erdrückender Beweise straflos bleibe.
Der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Günter Krings (CDU), erklärte zu dem Urteil, die Entscheidung des Verfassungsgerichts sei “bitter für die Angehörigen von Mordopfern”. “Ich hätte mir gewünscht, dass das Gericht die Belange der Familien der Opfer und der Allgemeinheit stärker gewichtet hätte.” Es sei zu befürchten, dass die Entscheidung auch negative Auswirkungen auf die Verfolgung von Kriegsverbrechen haben werde: “Jetzt werden deutsche Staatsanwälte noch vorsichtiger werden, ob sie beispielsweise ein russisches Kriegsverbrechen bei uns zur Anklage bringen, wenn hier nicht alle Beweismittel aus dem Kriegsgebiet optimal verfügbar oder erreichbar sind.”
Die FDP-Rechtspolitikerin Katrin Helling-Plahr erklärte dagegen, die von der großen Koalition beschlossene Einschränkung des Mehrfachverfolgungsverbots habe den verfassungsrechtlichen Grundsatz missachtet, dass “durch ein rechtskräftig gesprochenes Urteil Rechtsfriede geschaffen wird”, sagte sie der “Welt”.
“Eine Reform, die eine praktisch endlose erneute Verfolgung eines Freigesprochenen auf Grundlage neuer Beweise ermöglicht, ist mit unserem Grundgesetz nicht vereinbar.” Dass irgendwann Rechtsfrieden einkehren müsse, sei auch für diejenigen wichtig, die unschuldig im Fokus stünden, sagte die FDP-Politikerin weiter. “Es darf nicht sein, dass sich Unschuldige lebenslänglich absichern müssen und lebenslänglich verfolgt werden können.”