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Kann man NS-Verbrechern vergeben?

Ein 94-Jähriger steht in Detmold vor dem Gericht. Die Anklage wirft ihm vor, als Wachmann im KZ Auschwitz der Beihilfe zum Mord an 170000 Menschen schuldig zu sein. Gedanken aus christlicher Sicht

Karl-Heinz Krull

Schuld und Vergebung sind ein ureigenes Thema des christlichen Glaubens. Wie sieht das aus im Blick auf Gerichtsprozesse und Strafen? Gerd-Matthias Hoeffchen fragte den leitenden Theologen der Lippischen Landeskirche, Landessuperintendent Dietmar Arends (siehe auch Seite 9).

Der christliche Glaube fordert uns auf, einander die Schuld zu vergeben. Kann eine Gesellschaft funktionieren, die auf Vergebung aufgebaut ist?
Einander vergeben heißt, weiterleben zu ermöglichen. Das bedeutet aber nicht, dass man auf das Feststellen von Schuld verzichtet. Vergebung setzt ja geradezu voraus, dass Schuld benannt und vor allem auch eingestanden wird.

Dem Angeklagten im NS-Prozess in Detmold wirft die Staatsanwaltschaft Beihilfe zum Mord in mindestens 170000 Fällen vor. Gibt es eine Grenze, ab der man Schuld nicht mehr vergeben kann?
Man muss vorweg fragen: Wer ist hier in der Position, jemand anderem die Schuld zu vergeben? Angehörige der Opfer, aber auch Überlebende haben sich da sehr unterschiedlich geäußert. Es gibt den Überlebenden aus Buchenwald, der sagt: Ich habe nicht vergessen, aber ich kann vergeben. Oder Eva Kor mit ihrer bei anderen auch umstrittenen Geste: Die 81-Jährige, die mit ihrer Zwillingsschwester grausame medizinische Experimente in Auschwitz überlebte, alle anderen Familienmitglieder aber im Konzentrationslager verloren hat, hat vor ein paar Monaten einen angeklagten und später verurteilten SS-Buchhalter umarmt und ihm seine Schuld vergeben …

… das war eine berührende Geste. Das können aber nicht alle …
Nein. Simon Wiesenthal beschreibt das in seiner Geschichte „Die Sonnenblume“: Simon, ein jüdischer KZ-Inhaftierter, wird zu einem sterbenden jungen SS-Mann gerufen. Der bittet ihn um Vergebung für seine Grausamkeiten. Simon kann nicht vergeben. Er empfindet zwar Mitleid, aber er dreht sich um und geht.

Also gibt es eine Grenze für Vergebung?
Wir sagen gerne, dass Gottes Liebe weiter ist, als wir uns vorstellen können. Doch wie weit sie geht, das bleibt in seinen Händen. Diese Liebe fordert uns auf, dass auch wir einander vergeben. Aber im zwischenmenschlichen Bereich können wir in Situationen geraten, die uns schlicht überfordern.

Welche Rolle spielt dabei solch ein Strafprozess?
Ein Gerichtsprozess hat eine andere Funktion als der unmittelbare zwischenmenschliche Umgang miteinander. Eine Gesellschaft kann nicht darauf verzichten, Schuld zu benennen. Im Prozess geht es natürlich letzten Endes auch um Strafe. Aber nicht nur. Die Nebenkläger im Detmolder Prozess haben sehr deutlich gesagt, dass für sie nicht entscheidend ist, dass ein greiser Mann am Ende seines Lebens ins Gefängnis muss, um Strafe zu verbüßen. Aber sie wollen, dass die Schuld, die dahintersteht, endlich benannt und festgestellt wird.
Tausende Täter und Mittäter sind nach Kriegsende unbehelligt geblieben, jahrzehntelang. Unsere Gesellschaft hat diese Schuld in vielen Fällen gerade nicht benannt.