Fünf Paukenschläge. Dann Flöten, Oboen und Geigen, die sich durch die Tonleiter trillern, als purzelten Engel vom Himmel. Funkelnde Trompetentöne – und schließlich der mächtige, einstimmige Ruf des ganzen Chores: Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage!
Eine Aufführung des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach gehört für viele Menschen zu den Höhepunkten der Adventszeit, egal ob sie mitsingen oder zuhören. Die Musik ist festlich, klar, mitreißend und von bezauberndem Melodienreichtum. Die Kluft zur klassischen Musik, die von vielen Menschen auch in der Kirche empfunden wird, scheint in diesem Werk überwunden. Es verbreitet vorweihnachtlichen Zauber, wie Adventssterne und Zimtgebäck.
Verkündigung oder Wohlfühlmusik?
Aber ist das nicht gleichzeitig ein Problem? Für Bach waren die sechs Kantaten des Weihnachtsoratoriums Verkündigung, geschrieben für die Liturgie des Gottesdienstes „allein zur Ehre Gottes“, wie er jedes seiner Werke signierte. Sein Evangelium, geprägt von Luthers Rechtfertigungslehre und tiefer Herzensfrömmigkeit, findet sich nicht nur im Jubel des Eingangschores, sondern auch an weniger auffälliger Stelle: So lässt er den Adventschoral „Wie soll ich dich empfangen“ nicht nach der bekannten Weise singen, sondern legt den Text unter die dunkle Melodie des Passionsliedes „O Haupt voll Blut und Wunden“ – ein Hinweis darauf, dass Geburt, Leiden und Kreuzigung Jesu nur zusammen gedacht werden können.
Für Bachs Zuhörer war diese musikalische Anspielung und Querverbindungen eindeutig. Sie hörten das Werk wie eine Predigt, eine zusätzliche Auslegung der biblischen Texte. Was aber suchen die Menschen, die heute in die Kirchen und Konzertsäle strömen, um dem Werk zu lauschen? Musikgenuss, Kindheitserinnerungen – oder Verkündigung des Evangeliums?
„Sicherlich ein Stück Heimat“, meint Gudrun Mawick, die sich als Pfarrerin in der Arbeitsstelle für Kirchenmusik und Gottesdienst der Evangelischen Kirche von Westfalen intensiv mit dem Weihnachtsoratorium auseinandergesetzt hat. Bachs Musik sei tiefgründig und gleichzeitig volkstümlich: Schlichte, eingängige Melodien und gleichzeitig komplexe Zusammenhänge von Text und Musik – „das ist das Geniale an diesem Werk“, findet die Theologin.
Der Komponist, so erläutert Mawick, habe sich zur Entstehungszeit des Weihnachtsoratoriums intensiv mit dem „galanten“ Stil auseinandergesetzt, der an Herrscherhöfen gepflegt wurde und sozusagen als „letzer Schrei“ galt. Viele der Stücke aus dem Oratorium sind ursprünglich gar nicht als Kirchenmusik entstanden, sondern wurden für Huldigungs-Kantaten komponiert, die Bach Fürsten widmete. Für die Weihnachtsmusik unterlegte er die Chöre und Arien dann so geschickt mit einem anderen Text, dass die Teile wie eine Einheit wirken. „Durch die Vermischung des ,ernsten‘ kirchlichen mit dem ,empfindsamen‘ weltlichen Stil ist eine Musik enstanden, die gleichzeitig alltagstauglich und heilig ist“, sagt Mawick.