Sterbehilfe für die Kirche – das ist ein Gedankenspiel, das der Wuppertaler Pfarrer Holger Pyka im vergangenen Herbst in einem Blog-Beitrag im Internet beschrieb. Seine Idee: Akzeptieren, dass sich in der Kirche manches überlebt hat, loszulassen, in Würde Abschied zu nehmen – und Freiheit für neue Ideen zu bekommen. Im Gespräch mit Anke von Legat erklärt Holger Pyka die Chancen dieses Gedankenspiels.
Die Kirche beim Sterben begleiten – das ist ein gewagter Gedanke…
Der kam mir, als ich im vergangenen Herbst die neuen Berechnungen zu den Kirchenmitgliedszahlen las, die ja in den kommenden Jahren deutlich zurückgehen werden. Seit Jahren kämpfen wir in der Kirche dagegen an. Ich fände viel wichtiger, zu fragen: Wie können wir aus dem kapitalistischen Streben des „immer höher, schneller, weiter“ ausbrechen? Dahinter steckt der Gedanke: Wenn wir es nur gut genug machen, können wir das Kleinerwerden umdrehen oder wenigstens stoppen. Ein gesellschaftlicher Trend lässt sich aber nicht umdrehen. Das von Einzelnen zu erwarten, ist unbarmherzig. Darum plädiere ich dafür, bestimmte kirchliche Angebote in Frieden sterben zu lassen – und sich überhaupt mal klar zu machen, dass Kirche in einer bestimmten Form enden könnte.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Ich beobachte, dass 97 Prozent aller Kirchenmitglieder am Sonntagmorgen sagen: Bei eurem Angebot mache ich nicht mit. Daran ändere ich auch nicht viel, wenn ich noch mehr Zeit in die Vorbereitung investiere, den Gottesdienst noch besser mache – es ist einfach nicht die Form, in der sich diese Menschen bereichert fühlen. Solange wir daran festhalten, fehlt diese Zeit und Energie, um etwas anderes zu versuchen.
Das Gottesdienstangebot ist doch aber längst nicht mehr auf den 10-Uhr-Gottesdienst am Sonntagmorgen beschränkt.
Nein, aber dadurch wird es ja auch nicht besser. Meine Überlegung ist: Manchmal muss ich Dinge wirklich sterben lassen, bevor ich neue anfange. Ich muss akzeptieren, dass bestimmte Formen von Kirche „austherapiert“ sind – eine Formulierung, die ich aus der Medizin übernommen habe. Wie das gehen kann, dieses „Sterbenlassen“, dafür habe ich keine fertigen Handlungsanweisungen. Aber ich denke darüber nach, wie sich dieser Satz anfühlt: „Die Kirche stirbt“. Das macht mich erst mal traurig. Aber dann weckt es die Frage: „Und was kommt dann?“
In kirchlichen Kreisen arbeiten viele Menschen sehr engagiert mit. Ist es nicht sehr bitter für sie, ihnen zu sagen: Eure Gruppe, euer Chor, eure Gottesdienstform stirbt jetzt?
Mir ist wichtig, dass es weder um Sterbehilfe geht, noch um Lebensverlängerung um jeden Preis. Sondern um würdige Begleitung dessen, was vorbeigeht. Wie viele Menschen halten in Patientenverfügungen fest, dass sie am Ende nicht krampfhaft am Leben erhalten werden wollen? Bei manchen Formen kirchlichen Lebens tun wir aber genau das. Wir sind schlecht darin, etwas aufzugeben oder auch jemanden zu verabschieden. Wir haben diese Tendenz, Dinge zu verewigen. Wenn wir etwas Neues anfangen, dann fragt man sich selten: Wie lange machen wir das? Wenn wir dagegen etwas beenden, fühlt sich das gleich wie Scheitern an. Aber das muss gar nicht sein – vielleicht hat es einfach seine Zeit gehabt. Wir wissen doch, dass nichts in dieser Welt auf Ewigkeit angelegt ist.
Gibt es denn eine Möglichkeit, konstruktiv damit umzugehen?
Meine Idee dazu stammt aus der Sterbebegleitung, aus der Palliativseelsorge: Sterben lassen ist erst mal unfassbar traurig und zum Teil grausam. Es gibt aber auch die Erfahrung, dass das Leben während des Abschiednehmens viel intensiver wahrgenommen wird und Sterbende wie Angehörige den Tod versöhnt annehmen können. So paradox es klingt: Aus einem gestalteten Abschied können die Überlebenden gestärkt und mit einem neuen Blick auf das Leben herausgehen. Und wir glauben doch an die Auferstehung der Toten. Ohne das würde ich das alles auch nicht denken wollen.
Heißt das, dass wir Angebote nur dann sterben lassen sollten, wenn etwas Neues an die Stelle treten kann?
Ich weiß nicht, ob Neues wirklich kommen kann, solange Altes noch da ist. Ostern gibt es ja auch nicht ohne Karfreitag. Manchmal müssen wir erst loslassen, um dann zu erfahren, dass wir gehalten sind. Wenn man den Gedanken ganz ernst nimmt, müsste man sich vielleicht ein halbes Jahr Zeit nehmen und alles, an dem niemand mehr Spaß hat und was nicht überlebensfähig ist, in Würde zu Ende bringen. Das Ziel dieses Prozesses könnte ein Ritual sein, das zeigt: Jetzt ist wirklich Schluss. Und das Raum gibt für Trauer – die gibt es natürlich, und die braucht ihre Zeit. Aber wir wären frei, über Neues überhaupt erst nachzudenken.
Warum fällt es uns so schwer, Altes loszulassen?
Ich glaube, häufig steckt die Angst dahinter, dass auffällt, wie wenig unsere kirchlichen Angebote tatsächlich gefragt sind. Eine Beobachtung während der Corona-Zeit ist ja, dass manches wegfällt, was immer da war – und es fehlt keinem! Dafür wird Energie und Kreativität frei, Neues auszuprobieren: Plötzlich erleben wir in den Sozialen Medien ganz viele Menschen, die mit der Kirche hoch verbunden sind und das auch zeigen, nur eben auf ganz andere Weise als der traditionellen.
Werden Zoom-Gottesdienste die „normalen“ jetzt ablösen?
Sicherlich nicht überall – es gibt ja Gemeinden, in denen normale Gottesdienste gut funktionieren, wo Menschen kommen, um neue Inspiration zu bekommen. Wenn das aber nicht der Fall ist, muss man ernsthaft fragen, wofür wir diese Veranstaltung anbieten. Dann wäre es ehrlicher, nach neuen Formen zu suchen. Im Laufe der Kirchengeschichte hat es doch immer wieder Veränderungen gegeben – und übrigens auch Wiederentdeckungen von ganz alten Formen.
Mal abgesehen von digitalen Gottesdiensten – welche Formen könnten das sein?
Denkbar wäre ja zum Beispiel, dass wir uns in manchen Gemeinden von unseren Gebäuden komplett verabschieden und sagen: Wir sind jetzt eine mobile Gemeinde; wir leihen uns die Räume da, wo wir sie brauchen. Auf diese Weise könnten wir ganz viel Verwaltung und Bürokratie sparen – und wir würden mit einer Weisheit ernst machen, die schon die alten Mönche kannten: Zu viel Besitz macht unfrei.
Wenn Sie Ihren Gedanken konsequent zu Ende denken – müssten wir dann nicht die Volkskirche in der Form, in der wir sie kennen, insgesamt zu Grabe tragen, mit ihren verbeamteten Pfarrerinnen und Pfarrern, den Kirchensteuern, den vielen Arbeitsplätzen?
Vielleicht, aber so weit geht meine Vorstellung noch nicht. Ich würde erst mal klein anfangen und in unseren Kirchen und anderen Räumen schauen, was eigentlich keiner mehr braucht und keiner will. Ein Adventskranzständer zum Beispiel, oder Stapel alter Gemeindebriefe. So war es, als ich in meiner Gemeinde angefangen habe: Da stand im Eingang des Gemeindehauses eine Vitrine, die niemand wahrgenommen hat. Irgendwann habe ich Müll reingelegt: keine Reaktion. Nach zwei Monaten habe ich das Ding entsorgt. Für mich ein richtiger Schritt – und dabei bin ich selbst auch gar nicht gut im Wegschmeißen und Abschiednehmen. Aber wenn Menschen dann den freien Raum, der plötzlich da ist, anfangen zu füllen – dann kann man erleben: Es geht weiter. Anders, aber weiter.
Könnte die Corona-Zeit in diesem Sinn eine Wende sein?
Ich glaube tatsächlich, dass vieles in den Gemeinden in dieser Zeit sterben wird. Und ich frage mich: Wie können wir das gut begleiten und gestalten? Wenn ein altgedienter Kreis sich dann nicht mehr trifft – lässt man das einfach geschehen, oder ehrt man das, was war, mit einem feierlichen Abschied? Gleichzeitig entsteht aber gerade auch Neues. Sicherlich sind wir fitter darin geworden, auf Leute zuzugehen und zu fragen, wie wir sie erreichen – denken Sie nur an all die Aktionen mit Briefen, Flugblättern oder kleinen Geschenktüten vor der Kirche. Wichtig ist eben vor allem, dass wir die Endlichkeit mancher Angebote Formen akzeptieren, statt krampfhaft daran festzuhalten. Mir selbst eröffnet dieses Bild neue Wege.
• Holger Pyka (38) ist Gemeindepfarrer in der Evangelischen Kirchengemeinde Uellendahl-Ostersbaum und Dozent am Predigerseminar Wuppertal, außerdem Slamer, Cartoonist und Autor eines Blogs über Kirche und Theologie: https://kirchengeschichten.blogspot.com/