Der Traum vom friedlichen Syrien ist endgültig vorbei. Islamistische Kämpfer ermordeten in den vergangenen Tagen offenbar Hunderte alawitische Zivilisten. Internationalen Protest gibt es bisher nur vereinzelt.
Die jüngsten Gewaltexzesse gegen Alawiten in Syrien durch Verbände der islamistisch geprägten Übergangsregierung sorgen für Angst und Empörung. Von Donnerstag bis Samstag wurden laut der in Großbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mehr als 1.000 Menschen getötet, darunter 745 Zivilisten, 125 Mitglieder der syrischen Sicherheitskräfte sowie 148 Kämpfer, die Assad loyal gegenüberstehen. Die Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Es handle sich um die schlimmsten Gewalttaten seit Jahren, sagte der Leiter der Beobachtungsstelle, Rami Abdulrahman.
Bei den Tätern soll es sich vor allem um ausländische Dschihadisten aus den Reihen der sunnitischen Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) handeln. Deren Kämpfer hatten im Dezember den syrischen Diktator Baschar al-Assad vertrieben und die Macht übernommen. Assad und ein Großteil der gestürzten Herrschaftselite entstammen wie viele Opfer der derzeitigen Gewaltwelle der religiösen Minderheit der Alawiten, einer Sekte mit Bezügen zum schiitischen Islam.
Videos in Sozialen Medien zeigen Ansammlungen von Leichen und massive Gewalt durch offenkundig islamistische Kämpfer gegen Zivilisten bis hin zu Erschießungen. In Berichten aus der von Alawiten bewohnten Mittelmeerregion um Tartus und Latakia sowie der Stadt Homs heißt es, auch Frauen und Kinder seien unter den Getöteten. Unklar scheint, inwieweit die Übergangsregierung derzeit die Kontrolle über die Milizionäre verloren hat.
Von der Übergangsregierung in Damaskus hieß es am Samstag, bewaffnete Anhänger Assads hätten am Donnerstag in der Küstenprovinz Latakia eine koordinierte Militäraktion gegen die Sicherheitskräfte gestartet, woraufhin letztere am Freitag größere Truppenkontingente mit Artilleriegeschützen, Panzer und Raketenwerfern dorthin verlegt habe. Beobachtern zufolge sollen dann von diesen Kräften Massaker an Zivilisten verübt worden sein.
Syriens Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa, der im Dezember die Eroberung von Damaskus durch die HTS angeführt hatte, erklärte in einer Rede am Sonntag: “Wir müssen die nationale Einheit, den inneren Frieden so weit wie möglich bewahren und, so Gott will, werden wir in der Lage sein, in diesem Land so weit wie möglich zusammenzuleben.”
Das Auswärtige Amt in Berlin verurteilte am Sonntag die Gewalt. “Berichte über die Ermordung von Zivilisten und Gefangenen sind schockierend. Die Übergangsregierung steht in der Verantwortung, weitere Übergriffe zu verhindern, die Vorfälle aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen”, erklärte eine Sprecherin.
UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk forderte ein sofortiges Ende der Gewalt, die laut seinen Informationen von Anhängern der früheren Assad-Regierung wie auch der jetzigen Übergangsregierung ausgehe. Die Vorkommnisse zeigten, dass Syriens nationaler Übergangsprozess auf Gerechtigkeit und Verantwortung gründen müsse.
Israels Außenminister Gideon Sa’ar rief die europäischen Regierungen auf, die Massaker in Syrien zu verurteilen und die neuen islamistischen Machthaber nicht zu legitimieren. Der neue Regierungschef Ahmed al-Scharaa und seine Männer “waren Dschihadisten und sind es geblieben, auch wenn sie jetzt Anzüge tragen”, sagte Sa’ar der “Bild”-Zeitung. “Europa darf die Realität nicht verkennen. Es muss aufwachen.”
Auch Papst Franziskus, der sich derzeit wegen einer Atemwegsinfektion in einem römischen Krankenhaus befindet, äußerte seine Besorgnis über die Eskalation in Syrien: “Ich hoffe, dass sie unter voller Achtung aller ethnischen und religiösen Gruppen der Gesellschaft, insbesondere der Zivilbevölkerung, endgültig aufhören”, teilte er in einer schriftlich verbreiteten Ansprache am Sonntag mit.