In der politischen Spielshow “Die 100 – Was Deutschland bewegt” wird mit den Füßen über aktuelle Fragen und Meinungen abgestimmt. Ein Interview mit Moderator Ingo Zamperoni über das “Aushalten” anderer Ansichten.
Ingo Zamperoni ist als Gesicht der ARD-“Tagesthemen” jede zweite Woche Gast in vielen deutschen Wohnzimmern. Über die Nachrichten hinaus moderiert der Journalist aber auch Sendungen, in denen es um Meinungen und Ansichten von Bürgerinnen und Bürgern ganz direkt geht. Dazu gehören das “NDR-Bürgerparlament” und seit 2023 auch “Die 100 – Was Deutschland bewegt”, eine “Mischung aus Talkshow und Spielshow” (Zamperoni), bei der 100 Teilnehmende über aktuelle Fragen und Meinungen von Migration bis zur Wiedereinführung der Wehrpflicht “mit den Füßen abstimmen” können. Die nächste Ausgabe ist am Montag um 21 Uhr zu sehen.
Der 51-Jährige bereist außerdem regelmäßig die USA, wo er von 2015 bis 2016 das ARD-Studio Washington leitete. Ein Gespräch über Neuerungen bei “Die 100”, das umstrittenen Reportage-Magazin “Klar” und die Lage in Trumps Amerika.
Antwort: “Die 100” ist vor allem eine Zuhörsendung. Wir hören den Menschen zu. Das hat mich von Anfang an diesem Projekt und seiner Herangehensweise überzeugt. Hier geht es in erster Linie darum, eine Seite mit ihren Argumenten kennenzulernen, sie wirken zu lassen – und sich erst dann dazu zu verhalten. Denn wir müssen auch Meinungen aushalten, von denen wir nicht überzeugt sind.
Antwort: Es geht darum, zu erkennen, dass es auch eine andere Seite gibt, die genauso leidenschaftlich argumentiert und die auch einen Punkt haben kann. Und es geht darum, diese Position zu respektieren und anzuerkennen. Ich glaube, das droht heute verloren zu gehen. Ich erlebe das ganz stark in den USA, wo dieses Aushalten-können, dieses “We agree to disagree” auf dem Rückzug ist.
Antwort: Ich gehe in die Runde und wähle meist spontan Menschen aus, die zum Thema etwas sagen wollen. Oder wo ich denke, guck mal da, die da hinten wirkt interessant, vielleicht hat sie etwas dazu zu sagen. Uns geht es darum, neue Impulse oder Denkanstöße zu finden.
Antwort: Wer nicht im Fernsehen auftreten mag, um seine Meinung zu äußern, würde sich wahrscheinlich gar nicht für “Die 100” bewerben. Aber natürlich gibt es Punkte oder Argumente, in denen jemand sagt: “Da möchte ich jetzt lieber nichts sagen”. Das ist völlig in Ordnung, wir zwingen keinen. Dann wende ich mich an die nächste Person.
Antwort: Ja, das stimmt. Denn das finde ich besonders spannend, was jemanden bewegt, seine bisherige Meinung zu hinterfragen. Das ist in diesem Format auch deshalb so spannend, weil “Die 100” ja einen gewissen Querschnitt der Gesellschaft abbilden: Menschen aus der Stadt, vom Land, Handwerker, Akademiker, Rentner, Studierende, und so weiter.
Antwort: “Die 100”, also “nur” 100 Menschen, können ja nicht repräsentativ für unsere ganze Gesellschaft sein. Das herzustellen, würde den Rahmen sprengen. Aber wir möchten die gesellschaftliche Wirklichkeit schon möglichst breit abbilden und deshalb würden wir zum Beispiel gern mehr Menschen mit Migrationshintergrund in den Sendungen sehen. Bei den bisherigen sechs Folgen wusste ich überhaupt nicht, wer kommen wird. Die Teilnehmer habe ich erst gesehen, als sie die Spielfläche betreten haben. Bei den neuen Sendungen wollen wir das ändern: Ich werde schon beim Warm-up dabei sein, um ein besseres Gefühl für die Teilnehmer zu bekommen. Außerdem befragen wir die Teilnehmerinnen und Teilnehmer schon vorab zu bestimmten Themen und Argumenten, damit es nicht mehr nur ein reines Zufallsprodukt ist.
Antwort: Jeder, der bei “Die 100” dabei sein will, kann sich bewerben. Ohne dabei jedoch zu wissen, um welches Thema es dort gehen wird. Wir wollen damit verhindern, dass sich Interessen- und Lobbygruppen gezielt einschleichen können.
Antwort: Alle, die sich im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegen, sind bei uns willkommen. Dabei kann auch einmal ein Bürgermeister oder Politiker sein. Dabei setzen wir jedoch auf Transparenz und machen das für die Zuschauerinnen und Zuschauer deutlich.
Antwort: Ich finde sehr beeindruckend, wie eloquent und respektvoll die Menschen sind – selbst bei Themen, zu denen sie vielleicht erst einmal keinen direkten Bezug haben. Wir versuchen alle anzusprechen, die sich für politische und gesellschaftliche Themen interessieren, und das Ganze etwas spielerischer zu gestalten, um verschiedene Meinungen und Positionen abzubilden. Wir wollen Argumente erlebbar machen, etwa durch die Requisiten in der Sendung. Es macht einen Unterschied, wenn man zum Thema Geflüchtete nicht nur Argumente vorträgt oder ein Einspiel-Video hat, sondern ein Flüchtlingsboot, das tatsächlich in Lampedusa gestrandet ist. Oder ein zerschossenes Auto aus der Ukraine. Auch wenn es jetzt schon die siebte Folge ist, fühlt es sich für mich immer noch wie ein Fernsehlabor an, in dem wir experimentieren können.
Antwort: Wir bieten ein breites Spektrum an Formaten: Politmagazine, Reportageformate, Sendungen wie das Wirtschaftsmagazin “Plusminus”, das auch von mehreren ARD-Sendern gestaltet wird. Da geht es immer auch um Perspektivwechsel. Über “Klar” ist, glaube ich, bereits genug gesagt worden. Fakt ist: Im nächsten Jahr wird es doppelt so viele Folgen geben, und mit Tanit Koch kommt beim NDR eine neue Moderatorin dazu, die als ehemalige Chefin der “Bild”-Zeitung jetzt nicht wirklich im Verdacht steht, eine gegenteilige Richtung einzuschlagen. Bei “Die 100” geht es ja auch darum, verschiedene Meinungen und Positionierungen zu tolerieren – solange sich alles auf dem Boden des Grundgesetzes und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegt.
Antwort: Ich habe als Korrespondent bis zur ersten Wahl von Donald Trump 2016 dort gearbeitet und bin dann 2017 zurück nach Deutschland gekommen. Schon damals hat man mir diese Frage gestellt. Es ist immer ein bisschen was dazwischen. Ich finde nach wie vor, dass die USA ein großartiges Land zum Leben, aber auch zum Arbeiten sind. Gudrun Engel, unsere ARD-Studioleiterin in Washington, hat die aktuelle Lage gut beschrieben und gesagt, man komme sich wie ein Golden Retriever vor. Und Donald Trump habe so eine Tennisballmaschine, und ballere täglich in alle Richtungen zig Tennisbälle, und ihr dreht sich der Kopf, weil sie nicht weiß, welchen sie hinterherrennen soll.
Antwort: Ich habe schon Sorgen, wie dieser Druck auf Medien, Journalisten, aber auch auf Gerichte, auf Universitäten und ganz allgemein auf Andersdenkende wirkt. Da sagt die Witwe von Charlie Kirk bei der Trauerfeier über den Täter “Ich vergebe ihm” und direkt danach kommt Präsident Trump und sagt, “Ich hasse meine Gegner”. Das treibt die ohnehin schon bestehende Polarisierung weiter voran. Solche Mechanismen kennen wir aus autoritären Staaten. Da werden Grenzen verschoben, und es ist immer schwer und mühsam, so etwas wieder zurück zu schieben.