Ende 2016 hat der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas das Buch „Kirche als Moralagentur?“ (Kösel Verlag, 128 Seiten, 14,99 Euro) veröffentlicht. Darin kritisiert er, dass vor allem die evangelische Kirche politische Positionen aus dem Ethos des Evangeliums vereinfachend ableitet. Zum Beispiel in der Migrationsfrage. Im Gespräch mit Amet Bick erklärt Joas, Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, warum das Christentum nicht zuallererst als Moral, sondern als begeisternder Glaube erkennbar sein sollte.
– Herr Joas, in Ihrem Buch fragen Sie, ob Kirche zu einer Moralagentur der Gesellschaft geworden ist, die in der Öffentlichkeit vor allem durch ihre politischen Statements wahrgenommen wird. Macht Kirche sich damit Ihrer Meinung nach überflüssig? Würde etwas fehlen, wenn es keine Kirchen gäbe?
Oh ja, vieles. Nach Erscheinen meines Buches überwog die Aufmerksamkeit auf den kritischen letzten Teil, wo ich einiges problematisiere, vor allem die Haltung der Kirchen zu migrationspolitischen Fragen in der allerjüngsten Vergangenheit. Es ist dabei untergegangen, dass das Buch eigentlich eine Zangenbewegung vornimmt. Es beginnt damit, die großartige Tatsache herauszuarbeiten, dass es Kirche über einen so enorm langen Zeitraum gibt. Man kann die Frage, was fehlen würde, nur beantworten, wenn man in großen historischen Dimensionen denkt und sieht, was aus dem Christentum in schöpferischer Weise für eine institutionelle Neubildung hervorgegangen ist. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass eine Religion eine Kirche hat.
– Wozu braucht Religion eine Organisationsform wie die Kirche?
Das Organisationsproblem stellt sich nur für die Religionen, die sich nicht mit einer bestimmten Ethnie oder einem Staat identifizieren. Im antiken Römischen Reich brauchte es keine Kirche, da der Kult wesentlich von Staat und Familie getragen wurde. Wenn es aber stattdessen darum geht, was für alle Menschen gut ist, wenn wir also diesen anspruchsvollen moralischen Universalismus haben, dann entsteht das Organisationsproblem…
– … und die Frage, wie sich diese Organisation, in unserem Fall also die Kirche, zu dem Staat, in dem sie lebt, verhält.
Es wird immer zu einem Ringen kommen zwischen Herrschaftsstrukturen und – im christlichen Fall – der Kirche. Dafür gab es in der Geschichte verschiedene Lösungen. Die Kirche kann sich dem Staat weitgehend unterordnen. So war es in der frühen Kirche. Es kann aber auch einen politischen, „theokratischen“ Herrschaftsanspruch von Seiten der Kirche geben. Wie im Investiturstreit des 11. Jahrhunderts.
– Und wie sehen Sie das Verhältnis der evangelischen Kirchen zum Staat?
Das Luthertum war immer gefährdet, sich strukturell mit einem bestimmten Staat zu verbinden – mehr als die katholische Kirche, denn in ihrer globalen Organisationsform steckt ein strukturelles Gegengewicht zum Nationalismus.
– Haben Sie den Eindruck, dass der Nationalismus noch in der DNA der evangelischen Kirche steckt?
Das ist kompliziert. Ich würde unterscheiden zwischen den verschiedenen protestantischen Kirchen. Die evangelische Kirche in Deutschland ist stark geprägt durch ein negatives Verhältnis zur eigenen Geschichte. Man weiß, wie weit man im wilhelminischen Kaiserreich und im Dritten Reich gegangen ist. Nach 1945 beschloss die evangelische Kirche, die Gefahr übergroßer Staatsnähe zu meiden. Im Fall der Migrationspolitik scheint ihr das aber nicht gut gelungen zu sein.
– Ist die evangelische Kirche da zu staatsnah?
Ich glaube nicht, dass die Repräsentanten der evangelischen Kirchen der Regierung nach dem Mund reden wollen, sondern sie handeln aus echter Überzeugung. Plötzlich scheint es ein Politikfeld zu geben, in dem die Regierung das tut, was man immer schon moralisch forderte.
– Wie stehen Sie zu dem Satz: Ein Christ kann nicht in der AfD sein?
Ich würde sagen, ein Christ kann nicht Mitglied in einer rassistischen Partei sein, wie es etwa die NSDAP war. Aber wir müssen den Begriff „Rassismus“ im strengen Sinn verstehen. Wenn eine Partei ein Weltbild hat, nach dem bestimmte Menschen von Natur aus minderwertig sind, dann kann ein Christ als moralischer Universalist nicht Mitglied dieser Partei sein.
Aber ich würde bezweifeln, dass die AfD in diesem Sinn eine rassistische Partei ist. Ich bin denkbar weit entfernt von der AfD, aber ich finde, es muss möglich sein, eine politische Position zu beziehen, die etwa das Fortschreiten der Europäischen Union in Richtung eines supranationalen Staates oder die Aufrechterhaltung des Euros in Frage stellt.
– Stört es Sie, dass scheinbar nur eine bestimmte politische Richtung in der Kirchenleitung als akzeptabel gilt?
Ja. Und die Skandalisierung anderer stört mich. In der evangelischen Kirche hieß es, man müsse untersuchen, wie es kommt, dass der Rechtspopulismus in Kirchengemeinden Anhänger findet. Das nimmt Menschen, deren Meinungen nicht mit der Regierungspolitik übereinstimmen, nicht länger als Staatsbürger wahr, die ein Recht auf ihre Meinung haben, sondern sie werden zu Problemfällen erklärt. Es ist eine Anmaßung der Kirchenleitungen, zu meinen, sie wüssten eindeutig, was politisch richtig ist. Man sollte die Zusammenhänge darlegen und nicht Begriffe erfinden, die sie verdecken. Der Begriff Populismus spielte in der öffentlichen Diskussion lange kaum eine Rolle, und plötzlich wird so getan, als gebe es eine mysteriöse Welle eines neuen Phänomens namens Rechtspopulismus.
– Würden Sie sagen, eine Zunahme des Rechtspopulismus gibt es nicht?
Ich wende mich gegen Begriffe, die das Denken in Alternativen unmöglich machen.
– Haben Sie das Gefühl, dass die Kirche durch die Haltung in der Migrationsfrage Glaubwürdigkeit verloren hat?
Ich stelle den guten Willen der Kirchen in keiner Weise in Frage. Aber sie sind in der Gefahr, Glaubwürdigkeit zu verlieren, wenn sie stark vereinfachend eine bestimmte politische Meinung zur einzig christlichen erklären.
– Politische Entscheidungen sind komplex. Das wird nicht wahrgenommen?
Es wird ein schneller Brückenschlag zwischen dem Ethos des Evangeliums und Migrationspolitik, europäischer Einheit, Währungsunion vorgenommen. Wer sich politisch in der Kirche an den Rand gedrängt fühlt, der entfernt sich innerlich oder tritt aus.
– Heißt das, Kirche sollte besser nicht politisch sein?
Das sage ich nicht. Aber sobald Kirche politisch agiert, ist sie all den Fragen ausgesetzt, die sich im politischen Raum stellen. Es ist nicht möglich, die Lösung schwieriger politischer Fragen aus der Theologie oder der Bibel abzuleiten. Ich kann sagen, ein Christ ist nicht nur den eigenen Landsleuten moralisch verpflichtet, sondern allen Menschen. Das kann ich dem Evangelium entnehmen. Aber welche Gestalt die moralische Verpflichtung annimmt, wird und darf kontrovers sein.