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Holocaustüberlebender Kernberg: Liberale Demokratien in Gefahr

Der Psychiater und Holocaustüberlebende Otto Kernberg hat dazu aufgerufen, die freiheitliche Demokratie als Gesellschaftssystem zu verteidigen. Der 95-Jährige warnte am Mittwoch in Köln vor aggressiven Rückwärtsbewegungen und der Versuchung der Grausamkeit. Schlimm wäre es, wenn eine Gruppe mit vermeintlichen Lösungen die Macht ergreife und alle anderen Gruppen zerstöre.

Kernberg warb für ein gesellschaftliches Austarieren von Freiheit und Gleichheit. “Absolute Gleichheit bedeutet Verlust der Freiheit. Absolute Freiheit bedeutet Verlust der Gleichheit”, so der Psychiater. Die Beschäftigung mit seinem Fachgebiet habe auch damit zu tun, dass er als Kind von einem auf den anderen Tag die bösesten Instinkte des Menschen habe kennenlernen müssen.

Kernberg wurde 1928 in Wien geboren und floh 1939 mit seiner jüdischen Familie vor den Nationalsozialisten nach Chile. Seit den 1960er Jahren lebt und arbeitet er in den USA, unter anderem als Professor für Psychiatrie an der Cornell University. Er gehört zu den bekanntesten Psychiatern und Psychoanalytikern. Der Forscher zu Persönlichkeitsstörungen gilt besonders als Experte für Narzissmus sowie als “Erfinder” der Borderline-Störung und entsprechender Therapien.

Kernberg ist bis heute in seinem Beruf tätig. “Ich war immer neugierig, was in anderen Menschen vorgeht”, so der Wissenschaftler. Seine Vitalität bis ins Alter beruhe auf Genetik und Glück. Er folge medizinischen Ratschlägen und versuche “vernünftig” zu leben. “Außerdem interessiert mich meine Arbeit, und so lange mein Gehirn arbeitet und ich das kann, will ich das machen.” Man müsse aber auch akzeptieren, dass das Leben eine beschränkte Dauer habe. Kernberg hielt im Alexianer-Krankenhaus Köln einen Vortrag über seine 65-jährige Psychotherapieerfahrung.

Vor gut einer Woche traf der Wissenschaftler im Vatikan Papst Franziskus zu einer Privataudienz, wie er mitteilte. “Ich hab mich sehr gefreut über die Möglichkeit, mit dem Papst zu sprechen”. Franziskus habe ihn unter anderem nach einer Erklärung dafür gefragt, warum die Menschen immer mehr bedrückt aussähen.