Das Foto zeigt das erste Mal, dass Anna Pokorna ihre Oma im Talar erlebte – auch wenn sie sich nicht mehr daran erinnern kann: Pokorna ist auf dem Bild ein Baby, die Großmutter im Talar tauft sie. „Bald darauf bin ich in Rente gegangen“, sagt Karla Trojanová, die Oma. Heute sitzen beide Tschechinnen gemeinsam im Wohnzimmer, die eine um die 33, die andere 91 Jahre alt, und beugen sich über die Fotos.
Trojanová gehört zu den ältesten lebenden Pionierinnen, die als Frauen bei der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder als Pfarrerinnen ordiniert worden sind – und Anna Pokorna, die Enkelin, ist eine der jüngsten Pfarrerinnen der Kirche, seit zwei Jahren im Amt. Vor 70 Jahren, im Jahr 1953, führten die Böhmischen Brüder – die größte evangelische Kirche Tschechiens – die Frauenordination ein. In Europa gehörte sie damit zu den ersten, die Frauen im Pfarramt zuließen. In Deutschland war Elisabeth Haseloff aus der Lübecker evangelisch-lutherischen Kirche 1958 die erste Pfarrerin.
Mit viel Willensstärke zur Pfarrerin
„Ich hatte in der Schule katholischen Religionsunterricht, und der hat mir unheimlich viel Spaß gemacht“, erinnert sich Karla Trojanová. „Aber als Katholikin hätte ich keine großen Chancen gehabt – studieren hätte ich wohl können, aber Pfarrerin wäre ich ganz sicher nicht geworden.“ Also studierte sie evangelische Theologie. An der Universität lernte sie ihren späteren Mann kennen – auch er wurde Pfarrer. Auf dem Weg haben sie sich gegenseitig geholfen.
Dass ihre Enkelin auch Pfarrerin werden wollte, ahnte Karla Trojanová zunächst nicht. Theologie studierte sie zwar auch, aber vor allem lernte sie am Konservatorium Musik. Um Rat gefragt habe die Enkelin sie jedenfalls nicht, bevor sie sich für den Beruf entschieden habe.
„Ich hätte ihr gesagt, dass es eine gute Entscheidung ist. Sie macht aber sowieso alles nach ihrem eigenen Willen“, sagt Karla Trojanová und fügt schmunzelnd hinzu: „Das ist bei mir übrigens genauso.“ Diese Willensstärke war für Karla Trojanova auch nötig auf ihrem Weg zur Pfarrerin.
Frauenordination war Legalisierung des Status Quo
Sie studierte in den 1950er Jahren – das war eine Phase, in der die Kirchen in der kommunistischen Tschechoslowakei brutal unterdrückt wurden. Als die Frauenordination offiziell genehmigt worden sei, erzählt Karla Trojanova, sei das damals so etwas gewesen wie die Legalisierung des Status Quo. Denn schon vorher hätten sich die Ehefrauen von Pfarrern um den Religionsunterricht gekümmert, sie hätten auch in den Gottesdiensten gepredigt – nur eben ohne offizielles Mandat.
Hintergrund sei auch die besondere Lage während des Zweiten Weltkriegs gewesen: „Da waren viele Pfarrer inhaftiert und ihre Frauen hielten in der Zwischenzeit die Gemeinden zusammen.“ Etliche Pfarrer waren im Widerstand gegen die deutschen Besatzer aktiv oder wurden dessen verdächtigt. Zu ihrer aktiven Zeit war Karla Trojanova als Frau dennoch Teil einer Minderheit. Heute, erzählt Enkelin Anna Pokorna, hätten sich die Verhältnisse in der Kirche gewandelt: In ihrem Jahrgang hätten die Frauen in der Ausbildung die Mehrheit gestellt.
„Mich hat am Anfang vor allem der theoretische, der theologische Teil interessiert“, sagt sie. „Erst im Vikariat habe ich erfahren, wie bunt die Praxis eigentlich ist – von der Theologie bis zum Religionsunterricht für Kinder. Der Beruf ist so reich, dass man sich nie langweilt.“ Anna Pokorna leitet heute zwei Gemeinden: Eine in Prag und eine in einem Vorort im Speckgürtel.
Evangelische Kirche stellt Minderheit in Tschechien
Auch sie hat ihren Dienst in einer Zeit angetreten, die für die Kirche in Tschechien herausfordernd ist – nicht wegen kommunistischen Repressalien wie bei ihrer Großmutter, sondern wegen der Marginalisierung der Kirche. Nur rund zehn Prozent der 10,5 Millionen Einwohner Tschechiens bekennen sich zu einer Religionsgemeinschaft. Rund 740.000 Menschen sind katholisch, die Kirche der Böhmischen Brüder als größte evangelische Kirche hat etwa 35.000 Mitglieder.
Dass sie einen aussterbenden Beruf gewählt habe, hört Anna Pokorna aber nicht gern. Sie hält dagegen: „Wenn jemand mitkriegt, dass ich Pfarrerin bin, kommen wir gleich ins Gespräch. Auf dem Papier sieht die Situation der Kirche nicht gut aus, das stimmt. Aber wenn ich mir die Gesellschaft anschaue, stelle ich in meinen eigenen Begegnungen immer wieder fest: Der Hunger nach einer geistigen Dimension und nach Gesprächen ist gewaltig – und die Sehnsucht nach einem tieferen Sinn.“