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Grundrecht privatisiert

Menschen, die für Flüchtlinge aus Syrien gebürgt haben, sollen nach einem neuen Gerichtsurteil viel länger verantwortlich sein für ihre „Schützlinge“ als erwartet. Sie sollen zahlen. Bis zu fünf Jahre

epd

Menschlichkeit mit Folgen: Engagierte Bürgerinnen und Bürger, die sich verpflichtet hatten, für eine Übergangsfrist für Wohnung und Lebensunterhalt von Flüchtlingen aus Syrien zu sorgen, befürchten nach einem höchstrichterlichen Urteil nun, für einen Zeitraum von bis zu drei beziehungsweise fünf Jahren zu Zahlungen herangezogen zu werden. Einigen sind bereits entsprechende Aufforderungen der Sozialbehörden ins Haus geflattert.
Der Hintergrund: Als vor etwa drei Jahren die Lage in dem Bürgerkriegsland Syrien zunehmend bedrohlich wurde, stellte sich für viele Syrerinnen und Syrer, die schon länger in Deutschland lebten, die Frage: Wie kann ich meine Angehörigen retten – vor Krieg und Verfolgung? Gibt es einen Weg, sie auf legalem Wege nach Deutschland zu holen?
Da es keine bundesweit rechtlich verbindliche Lösung für diese Fälle gab, haben die Länder Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen Hilfswillige – gebürtige Syrer, andere Privatpersonen oder juristische Personen wie Kirchengemeinden – ermutigt, durch eine Art Bürgschaft Menschen den Weg ins sichere Deutschland zu eröffnen.
Das heißt: Die Hilfswilligen mussten sich gegenüber dem Staat verpflichten, für Wohnung und Lebensunterhalt der Flüchtlinge aufzukommen. Allerdings ging man damals davon aus, dass diese Pflicht nur so lange währt, bis der Asylantrag positiv beschieden wird und die Flüchtlinge Unterstützung nach Sozialgesetzbuch II oder XII beantragen können, sich mithin ihr Aufenthaltsstatus und damit der „Zweck ihres Aufenthalts“ ändert.

Neuer Status, wenn Asyl gewährt ist

Wie sich herausgestellt hat, gab es damals bereits unterschiedliche Lesarten auf Bundes- und auf Länderebene. Während das Bundesinnenministerium nach den Worten von Thomas Heinrich, juristischer Dezernent im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen, den Standpunkt vertrat (und noch vertritt), dass die Gewährung von Asyl an dem „Zweck des Aufenthalts“ eines Flüchtlings nichts ändert (und damit auch nicht an den Pflichten des Bürgen), war das damalige nordrhein-westfälische Innenministerium der Meinung, dass sich der „Zweck des Aufenthalts“ sehr wohl ändert, wenn erst einmal Asyl gewährt wurde. So konnte Landesinnenminister Ralf Jäger den potenziellen Bürgen berechtigte Hoffnung machen, dass sie nach Gewährung von Asyl für die betroffenen Flüchtlinge aus der Verantwortung entlassen wären.
Nun aber hat das Bundesverwaltungsgericht Ende Januar dieses Jahres entschieden, dass bei Altverpflichtungen, die vor dem 6. August 2016 eingegangen wurden, die Bürgschaftspflicht drei Jahre beträgt, bei später eingegangenen Verpflichtungen sogar fünf Jahre – unabhängig davon, welchen Aufenthaltsstatus der Flüchtling hat.
Stefan Straube-Neumann sieht in diesem Urteil wenigstens einen positiven Aspekt: dass nun endlich die Bürgschaftszeit offiziell begrenzt ist. Er selbst hat im November 2014 für eine siebenköpfige syrische Familie gebürgt, nachdem ihn Mitglieder der syrischen Gemeinde in Minden um Unterstützung gebeten hatten.  
Straube-Neumann ist „Eine-Welt-Promotor“ im Welthaus Minden und hatte sich zu dem Zeitpunkt schon intensiv mit dem Thema Syrien befasst und dem, wie er sagt, „bestalischen Vorgehen des Assad-Regimes“. So musste er nicht lange überlegen. Er machte einen Termin bei der Ausländerbehörde, legte seinen Steuerbescheid vor und unterschrieb die Verpflichtungserklärung. Kurze Zeit später kam die Familie in Deutschland an, aber wo sie geblieben ist, weiß er nicht. Er hat sie nie kennengelernt. Zunächst habe sich wohl die syrische Gemeinde gekümmert, meint er, und danach die Behörden.
Bis jetzt hat Straube-Neumann keine Zahlungsaufforderung erhalten. Aber wenn er eine bekäme, wäre er bereit, die Unterhaltskosten für die Zeit bis zur Asyl-Anerkennung zu zahlen. „Was sind schon 20 000 Euro angesichts der aktuellen Weltlage? Wenn ich dafür eine Familie retten konnte, ist das doch besser als ein neues Auto“, sagt er.
Ein anderer Bürge, der bis zur Asylanerkennung seiner sechs „Schützlinge“ fünf Monate lang aus eigener Tasche für Wohnung und Unterhalt gesorgt hat, stellt sich ebenfalls darauf ein, eine Zahlungsaufforderung für die Zeit darüber hinaus zu bekommen. Für ihn steht fest, dass er dagegen Widerspruch einlegen wird.
Beide Bürgen kommen aus dem Raum Minden. Auch andernorts in Westfalen gibt es entsprechende Vorgänge, etwa in Gütersloh. In Minden jedoch hat sich mittlerweile ein Zusammenschluss verschiedener Institutionen gebildet, die mögliche oder bereits zugestellte Rückzahlungsforderungen nicht einfach hinnehmen wollen. Mit dabei sind der Evangelische Kirchenkreis Minden, das Welthaus und der Verein „Minden – Für Demokratie und Vielfalt“.
Das Mindener Bündnis hält es für unerträglich, dass „vorbildliches Bürgerengagement“ durch die Rückzahlungsforderungen bestraft werde. Durch das Urteil aus Leipzig werde das grundgesetzlich verankerte Asylrecht privatisiert. Entspricht es dem Geist des Grundgesetzes, so wird gefragt, dass das Recht auf Asyl auf die Zivilgesellschaft verlagert werde, indem es gekoppelt werde an eine fünf- oder dreijährige Bürgschaft aus der Mitte der Gesellschaft?

Engagierte Helfer nicht im Regen stehen lassen

In Minden hat man inzwischen einen Rechtshilfefonds gebildet, um den betroffenen Bürgen das Prozesskostenrisiko zu verringern, wenn sie gegen Zahlungsbescheide klagen wollen. Gleichzeitig denken die Beteiligten darüber nach, wie Bürginnen und Bürgen finanziell unterstützt werden können, damit ihre Bürgschaft keine für sie ruinösen Folgen hat. Dafür hat der Kirchenkreis Minden ein Spendenkonto eingerichtet. Innerhalb von nur zwei Wochen sind nach Auskunft von Superintendent Jürgen Tiemann immerhin fast 3200 Euro zusammengekommen.
Tiemann, der auch in dem Verein „Minden – Für Demokratie und Vielfalt“ engagiert ist, sagt, zwar hätten im Kirchenkreis Minden keine Gemeinden, sondern nur Einzelpersonen Bürgschaften für Flüchtlinge übernommen, die aber wolle man, weil viele von ihnen kirchlich gebunden sind, nicht im Regen stehen lassen.
Die westfälische Landeskirche hatte für kirchliche Bürgschaften bereits in einem Rundschreiben von Dezember 2014 empfohlen, auf Kirchenkreisebene eine Bürgschaftssicherungsrücklage zu bilden. Das Rundschreiben würdigte das humanitär-christliche Engagement der Kirchengemeinden, wies aber gleichzeitig auf die Probleme hin, die sich aus einer Bürgschaft ergeben könnten. Es sei die Vorerfahrung aus dem Bosnien-Krieg gewesen, die die Landeskirche zu diesem Schritt bewogen habe, sagt Thomas Heinrich. Damals hätten sich manche Personen übernommen.
Auch heute geht der promovierte Jurist davon aus, dass „wir in Haftung genommen“ werden – genauso wie es der Volksmund sagt: „Den Bürgen musst du würgen“.  Allerdings gebe es, bevor gezahlt werden müsse, Anhörungsprozesse, in denen die Betroffenen ihre Sicht der Dinge darlegen können.
Dass sich Gemeinden jedoch darauf berufen können, einem Irrtum unterlegen zu sein, sieht Heinrich eher skeptisch. Auf dieses rechtliche „Schlupfloch“ hatte das Bundessozialministerium auf eine Frage der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke (Linke) hingewiesen. Wie die Süddeutsche Zeitung im Mai schrieb, könnten demjenigen Bürgen Forderungen erlassen werden, der bei der Abgabe der Bürgschaft davon ausging, dass sie nur einige Monate gilt. Eine Bürgschaft könne in diesem Fall „wegen Irrtums angefochten werden“. Man müsse nur den Einzelfall prüfen.
Momentan ist noch nicht klar, wieviel „Einzelfälle“ von Rückforderungen es genau geben wird. Kirchliche Gruppen/Gemeinden dürften mittlerweile vorbereitet sein. Viele deutsche und syrische Privatleute hingegen, die aus Mitmenschlichkeit oder aufgrund familiärer Bindungen Bürgschaften übernommen haben, fallen eventuell aus allen Wolken, wenn ihnen die Zahlungsaufforderungen der Sozialbehörden ins Haus flattern.
Auch wenn eine gesetzliche Änderung kurzfristig nicht erwartet wird, haben Menschen wie Stefan Straube-Neumann doch noch die Hoffnung, dass am Ende für die Beteiligten alles gut ausgeht. Die Diakonie Deutschland jedenfalls sieht in dem „Schlupfloch Irrtum“ tatsächlich eine Chance. Man werde das Thema weiterverfolgen, heißt es von Seiten des Vorstands Sozialpolitik. Allerdings sei zu befürchten, dass es jetzt, vor der Bundestagswahl, nicht im Fokus der politischen Aufmerksamkeit stehe.