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Große Zahlen, kleines Saarland

Wer hat es noch nicht gelesen, welcher Journalist noch nicht geschrieben: Eisberge driften umher, Feuersbrünste bedrohen Koalas, Ölteppiche ergießen sich, ein See ruht – und alle sind sie just so groß wie, dreimal größer oder zweimal kleiner als das Saarland. Doch warum grob, wenn es auch genau geht; warum Saarland, Fußballfeld und Badewanne als Vergleichsgrößen statt exakter Quadrat- und Kubikmeter?

„Die Zahlen, die wir uns vorstellen können, sind nicht besonders groß“, sagt Albrecht Beutelspacher, Gründer und Vorstand des „Mathematikums e.V.“ in Gießen. „Jemand sagte mal etwas spaßeshalber, man könne sich nur Zahlen bis zu seinem Jahreseinkommen vorstellen.“

Für große Zahlen sei der Mensch schlicht nicht gemacht, erklärt der ehemalige Mathematik-Professor der Universität Gießen. „Dies ist nicht in unseren Genen angelegt. Und die Evolution hat uns da nicht vorangebracht. Große Zahlen waren wohl früher nicht fürs Überleben wichtig.“ Diesen Eindruck bestätigen die Neurowissenschaftlerinnen Elisabeth Y. Toomarian und Lindsey Hasak von der Stanford University. Sie beschäftigen sich damit, wie Menschen Zahlen verwenden und verstehen. Auf der Plattform „The Conversation“ schrieben sie während der Corona-Pandemie, dass eines sicher sei: Menschen seien generell schlecht darin, große Zahlen zu verarbeiten.

Beutelspacher verweist auf die größte Zahl der Römer, das „M“ (1.000). „Unsere letzte Finanzkrise hätte es unter den Römern nicht geben können – sie hätten die Überweisungen gar nicht ausstellen können.“ Oder sehr viele „M“ hintereinander reihen müssen.

Bei Flächen kommen wir schnell zu großen Zahlen, da hier multipliziert wird: Länge mal Breite. Ein Quadratkilometer beinhaltet schon eine Million Quadratmeter. Das sind Potenzen von Längen, und die können wir nur schwer fassen. Beutelspacher sagt, dass wir uns am ehesten noch Flächen vorstellen können, die wir real erfahren haben, idealerweise wiederholt: den Ort, in dem wir leben etwa, oder eben ein Fußballfeld – wobei die auch unterschiedlich groß sind. Wichtig ist: Wir denken dabei nicht in Zahlen, sondern in Kategorien. Und die können wir sammeln und mehren.

„Da wir uns nur kleine Dinge vorzustellen vermögen“, erklärt Beutelspacher, „sollten wir für hilfreiche Vergleiche große Flächen mit kleinen beschreiben.“ Da sei das Saarland als kleinster Flächenstaat Deutschlands mit seinen rund 2.570 Quadratkilometern vielleicht geeignet, auch wenn es für viele eher ein unbekanntes Land sei. Wohl die wenigsten Nicht-Saarländer haben das Land so von Nord bis Süd und Ost bis West durchquert, dass sie ein Gefühl für dessen Größe entwickelt haben.

Die beiden US-Neurowissenschaftlerinnen Hasak und Toomarian erklären, es falle Menschen leichter, zwischen relativ kleinen Zahlen zu unterscheiden als zwischen größeren. Das sei bei erwachsenen Menschen nicht anders als bei Säuglingen oder sogar Tieren wie Ratten. So sei der Unterschied zwischen 2 und 5 viel leichter zu erkennen als der zwischen 62 und 65 – obwohl sich beide um 3 unterscheiden. Alles, was größer als 5 sei, sei eine zu große Menge, um intuitiv erkannt zu werden.

Menschen verwendeten Wörter wie „Tausend“ und „Milliarde“ als Kategorien, die eher für „groß“ und „größer“ als für unterschiedliche Zahlenwerte stünden. So hätte unser Gehirn während der Corona-Pandemie einfach nicht verstehen können, was es bedeute, dass eine Million Menschen gestorben seien.

Und das Saarland? Der österreichische Astronom, Autor und Wissenschaftskabarettist Florian Freistetter bezweifelt auf „Spektrum.de“, „dass sich irgendwer wirklich eine vernünftige Vorstellung von der Größe des Saarlands machen kann.“ Sobald die Dinge den Bereich unserer Alltagserfahrung verließen, werde es schwierig. Die Erde sei im Durchschnitt 149.597.870.700 Meter von der Sonne entfernt. Zu wissen, dass diese Distanz „nur“ acht Lichtminuten entspreche, sei praktisch, mache sie aber nicht begreiflicher.

Also hilft uns auch der Maßstab Saarland gar nicht weiter, eine Flächengröße zu erfassen? Scheint egal zu sein, im Internet gibt es schon längst Saarland(um)rechner. Und Beutelspacher ergänzt am Ende: Fläche sei doch gar nichts gegen Volumen. Das gehe uns völlig ab, uns ein Volumen vorstellen zu können: „Das unterschätzen wir dramatisch. Die ganze Menschheit passt in den Bodensee. Das würde vielleicht ein Prozent seines Volumens ausmachen.“ Der Bodensee hat ein Volumen von circa 48 Kubikkilometern, 48 Billionen Litern. Und eine Fläche von 536 Quadratkilometern, ohne Seerhein. Das ist übrigens fast ein Fünftel der Fläche des Saarlands.