Im Spielerparadies Las Vegas gibt es laut Internet über 500 Kirchen. Rund 115 000 heiratswillige Paare aus aller Welt geben sich dort jährlich das Ja-Wort. Brad Beckman ist in der Wüstenmetropole nicht nur Pastor, sondern auch Taxifahrer. Pastor B., wie Brad Beckman auch genannt wird, ist dort Geistlicher, wo andere der Ausschweifung frönen. Doch Las Vegas ist mehr als glitzernde Partymetropole, die Stadt hat Probleme mit Armut, Spielsucht, Drogen- und Alkoholmissbrauch. Da braucht es schon einen wie Pastor B., der die Ecken und Kanten mag und der davon überzeugt ist, dass es mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt gibt, als es die US-Medien in Wahlkampfzeiten aktuell vermitteln.
Brad Beckman trägt heute lange Hosen. Das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit. „Wir haben hier momentan eine ‚Kältewelle‘, sprich, statt der gewohnten 40 Grad plus hat es heute gerade einmal 29, das ist für unsere Verhältnisse kühl“, gesteht der Pastor lachend und schließt die Bürotür der „First Good Shepard Lutheran Church“ auf. Seine Gemeinde hat 350 getaufte Mitglieder, rund 120 kommen am Wochenende zum Gottesdienst. Pastor B., wie ihn Freunde und Mitglieder nennen, leitet seit Anfang 2018 die kleine Gemeinde, die im Herzen von Las Vegas, nur wenige Hundert Meter entfernt vom berühmten Strip mit den Casinos, liegt. Einen Katzensprung entfernt von der „sündigen Meile“ mit seinen einarmigen Banditen und Animierbars. Nevada ist bis heute der einzige Staat in den USA, in dem Prostitution gesetzlich erlaubt ist.
Brad Beckmann kümmert sich um Obdachlose und Drogenabhängige
Gleich gegenüber seiner Kirche befindet sich das LGBTQ-Center, mit dem der Pfarrer oft Kontakt hat. Sonntags vor dem Gottesdienst sammelt er hinter der Schule den Müll ein, darunter auch Nadeln von Drogenabhängigen. Verärgert ist er deshalb nicht auf seine Nachbarschaft. „Wir haben eine gute Beziehung zu allen. Uns geht es darum, Brücken zu bauen, in einer Gemeinschaft zu leben und einander zu unterstützen.“ Die Gründe, warum Menschen Hilfe brauchen, berichtet er, sind vielschichtig. „Oft spielen Drogen, Alkohol, Spielsucht und psychische Probleme eine Rolle. Hier in der Nachbarschaft lebt zum Beispiel eine ehemalige Lehrerin auf der Straße, die mentale Probleme hat. Ihre Familie hat Geld für sie auf einem Konto bei der Bank hinterlegt, aber sie möchte keine Verantwortung haben, und Rechnungen oder Miete bezahlen und lebt lieber unter freiem Himmel. Geld ist nicht immer die Antwort auf alles“, so der Geistliche.
In Las Vegas kommen auf jeden der rund 2,2 Millionen Einwohner statistisch gesehen mehr Kirchen pro Kopf als in jeder anderen Stadt in den USA. Im Gegensatz zu den berühmten Wedding-Chapels, in denen Touristen aus aller Welt im 20-Minuten-Takt wie am Fließband von einem Elvis-Double unter die Haube gebracht werden, zählt die Kirche von Pastor B. zu den traditionellen, konservativen Gemeinden, in denen die alte Liturgie gepredigt wird. Es gibt einen Altar mit Kerzen. Zu den Gottesdiensten trägt der Pfarrer einen Talar. Mit dem für Vegas typischen Heiratstourismus habe er nichts am Hut, betont er. Zu ihm kommen die Menschen, die in der Stadt leben. Familien, Obdachlose, Drogenabhängige, finanziell Benachteiligte.

Landesweit hat die „Lutheran Church Missouri Synod“ (LCMS) rund zwei Millionen Mitglieder in den USA und etwa 10000 Kirchen, in denen rund 6000 Pastoren arbeiten. Alleine acht von ihnen befinden sich in und um Las Vegas. Die „First Good Shepard“ war die erste Kirche am Ort. Gebaut wurde sie 1940 und seit einigen Jahren ziert ein großes Wandgemälde die Kirchenwand. Darauf abgebildet sind Kinder verschiedener Kulturen und Jesus, der ihnen die Hand entgegenstreckt. Für die Autofahrer und Passanten, die daran vorbeikommen, nicht zu übersehen. Die Botschaft des Gemäldes ist klar. „Wir sind eine Gemeinde für alle Nationen. Es ist egal, wo du herkommst, wie du aussiehst, wie du dich kleidest, wie du riechst, ob du arm bist oder reich“, erklärt Pastor Beckman.
Pastor in Las Vegas wollte in einen Brennpunkt
Sein eigener Lebensweg, verrät der Pastor, war kein Zufall. Geboren in San Antonio, Texas, wuchs Brad Beckman in einem streng religiösen Elternhaus auf. „Insofern kein Wunder, dass ich Pastor geworden bin.“ Nach seinen ersten Pfarrstellen im texanischen Arlington und später in Lincoln, Nebraska, und St. Louis, Missouri, zog es den heute 63-Jährigen nach Las Vegas.
„Ich habe für mich festgestellt, dass ich an einem Ort sein möchte, der mich herausfordert, der Ecken und Kanten hat. Ich war vorher in ländlichen Gemeinden, in denen alles schön und ruhig war. Aber das ist nicht die reale Welt. Ich möchte nicht in einer Blase leben und mich langweilen, sondern lieber im Brennpunkt sein. Ich bin ein Adrenalin-Junkie. Diesem Ruf bin ich gefolgt und hier gelandet. In Vegas fühle ich mich wohl und erfüllt. Hier ist es aufregend.“
Wer nicht als Tourist zum Spielen oder Heiraten nach Las Vegas kommt, sondern hier lebt, erlebt die Partymetropole meist weniger glitzernd: So sind die Apartmentpreise in den letzten Jahren fast unerschwinglich geworden, seit immer mehr Kalifornier nach Nevada ziehen und so die Mieten nach oben treiben. „Die einkommensschwache Bevölkerung wird durch Wohlhabende und Firmen verdrängt, die alte Gebäude aufkaufen und teuer sanieren“, bedauert Pastor B. „Deshalb mussten schon viele Alt-Eingesessene von hier wegziehen.“
Beckman ist nicht nur Pastor, sondern auch Taxifahrer
Was überrascht: Brad Beckman ist nicht nur Pastor, sondern nebenbei Uber-Fahrer, ein Taxifahrer. „Ich habe bereits über 15000 Fahrten gemacht. Die ganze Welt sitzt in meinem Auto. Alle Sprachen, alle Religionen.“ Was damals vor zehn Jahren als Nebenjob in Nebraska begann, macht er jetzt nach Feierabend aus Spaß nebenbei. „Einfach, um mit Leuten ins Gespräch zu kommen und um gute Geschichten für meine Predigten zu sammeln. Sobald ich erwähne, dass ich Pastor bin, haben Gäste oft spirituelle und theologische Fragen.“ Sein Vater findet das übrigens klasse. Er sagte: „Andere gehen Golf spielen, du fährst Uber.“
Mit den Kollegen der Hochzeitskapellen, bei denen der Kommerz und das Entertainment im Vordergrund stehen, steht Pastor B. nicht in Konkurrenz. Schließlich sind fast alle von ihnen Standesbeamte, die in einem halbtägigen Kurs eine Hochzeitslizenz zum Trauen erwerben, um damit Geld zu machen. Brad Beckman hingegen traut nur Kirchenmitglieder seiner Gemeinde und keine Touristen. Wobei: Einmal hatte er bei seinen Uber-Fahrten ein Pärchen auf dem Rücksitz, die heiraten wollten und nicht wussten, wo. „Kannst du was empfehlen? fragten sie mich. Als ich mich als Pastor zu erkennen gab, und sie meinten, sie hätten gerne eine kirchliche Trauung mit einem echten Pfarrer, da habe ich sie in der Hotel-Lobby getraut, der Concierge des Hotels war spontan Trauzeuge“, erinnert Pastor Beckman sich schmunzelnd.

Zu den anstehenden Präsidentschaftswahlen in dem tief gespaltenen Land hat der Pastor eine klare Haltung. Vor allem die Rolle der Medien sieht er kritisch. „Ich denke, es gibt mehr Harmonie und Einheit als wir denken, aber die Medien haben die Macht. Sie forcieren vieles und versuchen, uns gegeneinander aufzuwiegeln. Sie könnten ja auch Menschen zeigen, die gut zusammenarbeiten und sich verstehen. Aber daran liegt ihnen nichts.“
Pastor: Las Vegas verzeiht Sündern
Vielleicht, gibt Pastor B. am Schluss zu, fühle er sich in Vegas auch deshalb so gut aufgehoben, weil man hier weniger Vorurteile gegenüber Sündern hat und sie mit keinem Stigma belegt. Für den zweimal geschiedenen Geistlichen und Vater von drei Kindern offenbar eine Achillesferse. „Natürlich ist es mir peinlich und ich bin nicht stolz darauf, aber andererseits haben wir doch alle unser Päckchen zu tragen und sind dadurch real, authentisch. Die Leute hier urteilen weniger und verzeihen Sündern eher.“