Das Gefühl von Verlassensein ist wohl eine der stärksten Empfindungen des Menschen überhaupt. Schon als Baby treibt ihn der Instinkt, sich die Seele aus dem Leib zu schreien: „Ich bin hier; ich brauche dich! Lass mich nicht alleine.“
Geborgenheit, Wärme, Zärtlichkeit, Nähe – das sind Ur-Bedürfnisse, unlösbar verbunden mit dem Drang nach Nahrung und Schutz vor Gefahren. Und diese Ur-Befindlichkeit, diese Ur-Angst bleibt in den Knochen stecken. Sie kann ein ganzes Leben prägen.
Die Literatur, das Sammelbecken menschlicher Erfahrungen, ist voll von diesem Ur-Erleben. Zu lesen bei Samuel Beckett, Albert Camus. In den Psalmen der Bibel. Auch das Werk eines Joseph Freiherr von Eichendorff, des letzten deutschen Romantikers unter den Dichtern, ist erst dann zu verstehen, wenn man um die grundlegende Sehnsucht nach der verlorenen Kindheits-Idylle auf dem elterlichen Schloss weiß.
Wie sehr sich der Verlust von Nähe und Geborgenheit über Jahrzehnte auswirken kann, zeigt das Beispiel der Vertriebenen. Die Erfahrung der Flucht aus den deutschen Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg ließ eine ganze Generation traumatisiert zurück. Und bis heute legt sich der Schatten dieser depressiven Grundstimmung auf Kinder und Enkel. Man kann es kaum mit dem Verstand fassen. Und doch ist da diese tiefe Trauer: Verloren. Für immer verloren.
Wohl nirgendwo anders wird diese Ur-Angst des Menschen so auf den Punkt gebracht wie in der biblischen Erzählung vom Garten Eden. Adam und Eva, die Prototypen der Menschheit, werden aus dem Paradies geworfen. Ab jetzt herrschen Blut, Schweiß und Tränen. Heulen und Zähneklappern.
Vielleicht ist das der Kern aller Verlorenheit: das Gefühl, von Gott verlassen zu sein. „Es ist ein Weinen in der Welt, als ob der liebe Gott gestorben wär, und der bleierne Schatten, der niederfällt, lastet grabesschwer.“ So beschreibt es die Dichterin Else Lasker-Schüler. Gottesferne. Die ultimative Erfahrung von Verlorensein.
Die Mutter wird krank. Der Vater stirbt. Ich selbst bekomme eine schlimme Diagnose beim Arzt: Gott, wo bist du? Die Arbeitsstelle geht verloren. Kinder werden missbraucht. Menschen werfen Bomben aufeinander. Gott, wo bist du?
„Reminiscere“, so lautet der Name für diesen Sonntag. Das steht für: Erinnere dich, Gott, an mich. David ruft diese Worte in den Psalmen. Ein Bitten, ein Flehen, voll Sehnsucht. Vielleicht auch Verzweiflung. Aus der Tiefe, rufe ich, Herr, zu dir – so heißt es an anderer Stelle in den Psalmen.
Es gibt keine einfache Antwort darauf, warum sich Gott manchmal verborgen hält. Kein „du musst nur an Jesus glauben, dann wird es besser“. Jesus selbst ruft am Kreuz: Mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Was aber bleibt, ist die Hoffnung. Ein Festhalten an einer Gewissheit, die irgendwo, tief im Herzen, verankert ist. Auch wenn Gefühle und Empfindungen das im Moment nicht hergeben mögen. Erinnere dich, Gott, an mich. Ich weiß, du bist da draußen – irgendwo.