Artikel teilen:

Gloria hinter Gittern

„Glo-o-o-o-o-o-ria in excelsis Deo“ hallt es über die langen Flure der Justizvollzugsanstalt (JVA) Heilbronn. Die Klänge dringen aus dem Kirchsaal des zwischen 1867 und 1870 errichteten Gefängnisses. 13 Männer sitzen dort in zwei Stuhlreihen hintereinander und proben gemeinsam mit Chorleiter Gregor Müller ihren Auftritt für den Heiligabendgottesdienst. Der wird in diesem Jahr etwas Besonderes, denn der Bischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Ernst-Wilhelm Gohl, wird kommen und die Predigt halten.

Müller erhebt sich vom Klavier und tritt vor den Chor. „Das war schon sehr gut“, sagt er. „Aber denken Sie daran: Das Gloria ist ein Jubel. Das darf man auch hören. Also noch einmal.“ Gregor Müller ist eigentlich Lehrer für Geschichte, Informatik und Religion. In seiner Freizeit leitet der Katholik seit 21 Jahren den Gefangenenchor der JVA Heilbronn.

Dass er aus den Insassen, wie die Gefangenen offiziell genannt werden, nicht die Stuttgarter Hymnus-Chorknaben formen wird, stört ihn nicht. „Sie liegen meist mindestens einen halben Ton daneben. Das ist normal“, sagt der 63-Jährige. „Aber das Singen verändert Menschen, bietet ihnen eine Perspektive“, ist er überzeugt. So könnten die Gefangenen mithilfe von musikpädagogischen Angeboten ihre Empathie, Disziplin und Impulskontrolle weiterentwickeln.

Wer in diesem Chor singt, hat einiges auf dem Kerbholz. Denn die JVA Heilbronn ist ein Gefängnis für sogenannte Langstrafler – also für Verurteilte mit Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und lebenslänglich. Die Chormitglieder sind schätzungsweise zwischen 20 und 70 Jahre alt. Sie tragen Jogginganzüge oder ärmellose T-Shirts, Turnschuhe oder Badelatschen. Einer von ihnen hat ein Holzkreuz um den Hals. Dabei gehören längst nicht alle Mitglieder dieses ungewöhnlichen Chors zur Kirche.

Zwei Drittel der rund 350 Gefangenen der JVA Heilbronn haben einen Migrationshintergrund, viele sind Muslime, weiß Gefängnisseelsorger Jochen Stiefel. Seit zehn Jahren betreut der evangelische Pfarrer die Gefangenen hier seelsorgerlich. Er hat ein offenes Ohr für ihre Ängste und Nöte, ist für sie da bei Fragen und Anliegen.

Alles, was sie ihm erzählen, unterliegt dem Seelsorge- oder Beichtgeheimnis. Das heißt, er gibt diese Informationen nicht an Ermittler oder Behörden weiter. Das schafft Vertrauen. „Gerade in der Advents- und Weihnachtszeit sind viele Insassen wehmütig, wollen reden“, ist Stiefels Erfahrung. „Dann spüren sie die Einsamkeit und Isolation stärker als sonst.“

Wer im Chor mitsingen darf, der hat eine positive Sozialprognose. Wer mitmachen möchte, geht freiwillig eine Verpflichtung ein, sagt Stiefel. Denn in dieser Zeit könnten sie auch einfach nichts machen oder fernsehen. „Aber zu spüren, ich kann mehr als ich gedacht hätte, das ist ja auch eine Hilfe für draußen, für die Zeit nach der Entlassung“, so der Geistliche, der ein professionelles und zugleich vertrauensvolles Verhältnis zu den Insassen pflegt.

Einen der „Chorknaben“ hat Pfarrer Stiefel kürzlich im Gefängnis getraut, im kleinsten Kreis. Im großen Stil nachfeiern will der frisch Vermählte das freudige Ereignis nach seiner Haftentlassung – in drei Jahren.

Zur heutigen Chorprobe ist auch der evangelische Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl aus Stuttgart angereist. Denn er wird an Heiligabend im Gottesdienst der JVA Heilbronn predigen. Da ist es gut, wenn man sich schon mal gesehen und den Ablauf gemeinsam besprochen hat.

Im Kirchsaal gibt es Brezeln und Getränke. Einer der Gefangenen wendet sich direkt an den Kirchenleiter: „Herr Bischof, kann ich bei Ihnen ein Gnadengesuch einreichen?“ Gelächter. „Das können Sie gern tun. Ob Ihnen das vor der weltlichen Gerichtsbarkeit hilft, weiß ich allerdings nicht“, antwortet Gohl schlagfertig. Das Eis ist gebrochen. Weihnachten kann kommen. (3048/20.12.2023)